Der grösste, böseste aller Zeiten? Nein, bei weitem nicht. Matthias Sempach ist «nur» ein gewöhnlicher König. Er hat «bloss» einmal den eidgenössischen Thron bestiegen. Kein Vergleich zu mehrfachen Königen wie Jörg Abderhalden, Ernst Schläpfer, Rudolf Hunsperger oder Karl Meli.
Und doch ist für Matthias Sempach im vaterländischen Pantheon der Bösen ein Ehrenplatz reserviert. 2013 gelingt ihm vor der eigenen Haustüre beim Eidgenössischen in Burgdorf die perfekte Thronbesteigung. Er gewinnt alle acht Gänge und jeden mit einem anderen Angriffsschwung und wird König. Mehr geht nicht. Ein solches offensives Feuerwerk hat vor und nach ihm kein König abgebrannt. Er ist kein typischer König. Abwarten und taktische Bauernschläue sind ihm fremd. Der «Killerinstinkt», die taktische Intelligenz eines Ernst Schläpfer oder Jörg Abderhalden passen nicht zu seinem Wesen. Er ist zu wenig böse. Er ist ein sanfter Titan.
Dieser grandiose Triumph zu Burgdorf birgt schon den Keim des frühen Rücktritts in sich. Im eidgenössischen Schlussgang wirft er seinen Freund Christian Stucki auf den Rücken. Das ist wahrlich kein «Zwergenwerfen». Christian Stucki ist 198 Zentimeter gross und, je nach Jahreszeit, zwischen 140 und 160 Kilo schwer. Der Titan der Titanen. Er ist ein Jahr älter als Matthias Sempach und erfreut sich noch immer guter schwingerischer Gesundheit. Weil er dank seiner zyklopischen Postur viele Gänge ohne volle Kraftentfaltung gewinnt. Ohne an die Grenzen der Belastbarkeit seiner Muskeln und Gelenke gehen zu müssen. Manchmal auch mit 80 Prozent Form.
Auf den ersten Blick ist Matthias Sempach auch ein mächtiges Mannsbild (194 cm/106 kg). Ein Titan. Aber er gewinnt keine Gänge kraft seiner Postur und seines Gewichtes wie Christian Stucki, Rudolf Hunsperger oder Karl Meli. Er gewinnt auch nie als schlauer Taktiker wie Ernst Schläpfer oder Jörg Abderhalden. Seine Siege sind immer das Produkt eines explosiven Angriffsschwunges. Wir erschauern, wenn wir daran denken, welche gewaltigen Kräfte da bei dieser sekundenschnellen Kraftentfaltung in Glieder und Gelenke und ins Rückgrat fahren.
Technische, spektakuläre Könige wie Matthias Sempach sind zerbrechliche Titanen. Sie altern schneller. Erst recht im Schwingen des 21. Jahrhunderts, das noch athletischer, explosiver und intensiver geworden ist. Es ist kein Zufall, dass Kilian Wenger – auch er ein «technischer» König – seinen Titel von 2010 nicht verteidigen konnte und oft von Blessuren geplagt wird.
Den Titel König trägt einer sein Leben lang. Eine Besonderheit des Schwingens ist es, dass es keine Ex-Könige gibt. Es gibt nur Könige und der Monarch hat sich während seiner ganzen Karriere diesem Titel würdig zu erweisen. Anders als ein Fussball- oder Hockeyspieler kann er im Abendrot der Karriere nicht ein wenig kürzertreten. Der wahre König – und Matthias Sempach ist ein wahrer König – sucht in jedem Kampf kompromisslos den Sieg. Ist er dazu nicht mehr in der Lage, dann verlässt er die Arena. Genau das hat Matthias Sempach getan. Weil es ihn nun auch noch im Rücken zwickt (die Bandscheiben). Deshalb hat er gestern die Arena mit 32 eigentlich ein paar Jahre vor der Zeit verlassen.