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Tuttwil ist ein 400-Seelen-Dorf auf einem Hügel im Hinterthurgau. Hier führen Sabine und ihr Ehemann Engi ein kleines Fitnesscenter, in dem sie mich und meine Teamkollegen des FC Wängi im Winter jeweils auf die Rückrunde vorbereitet haben. Politisch korrekt heisst meine Heimat zwar nicht mehr Hinter-, sondern Südthurgau. Das soll weniger provinziell klingen. Aber der Namenswechsel ändert nichts daran, dass die Region nicht gerade der Nabel der Welt ist – und Tuttwil schon gar nicht.
Doch für Sabine und Engi ist das kleine Dörfchen am Waldrand nicht abgeschieden genug. Jeden Sommer schliessen sie deshalb ihr Fitnesscenter und fliegen in die Wildnis. In Yukon – einem Territorium im Nordwesten Kanadas, das zwölf Mal so gross ist wie die Schweiz, aber nur rund 36'000 Einwohner hat – haben sich die beiden vor 15 Jahren eine Hütte am praktisch unberührten Braeburn Lake gekauft. Ein kleines Paradies, an dem sie mich und andere Freunde aus der Schweiz gerne ein paar Tage teilhaben lassen.
Sabine und Engi leben hier vier Monate pro Jahr einfach in den Tag hinein: fischen, Pilze sammeln, Kayak fahren und am Abend ein Glas Wein. Ganz unschweizerisch pfeifen sie auf ein höheres Einkommen und entscheiden sich stattdessen für Ruhe und Lebensqualität. Die Hinterthurgauer sind jedes Jahr Aussteiger auf Zeit.
Ich treffe im Norden Kanadas aber auch auf Menschen, die unserem Gesellschaftssystem viel radikaler den Rücken kehren. Ben und Kacey laden mich am Braeburn Lake auf und fahren mich direkt ins 430 Kilometer entfernte Goldgräberstädtchen Dawson.
Sie schreien schon rein optisch: Wir sind anders! Er mit abgetragenem Holzfällerhemd, Bart und Vokuhila-Frisur, sie mit Rastalocken, mehreren Piercings und einem Nasenring, der sich wie bei einigen Rindern durch die Nasenscheidewand bohrt und aus beiden Löchern hervorschaut.
Wenn sich die beiden für einen Job am Bankschalter bewerben würden, hätten sie schlechte Karten. Aber das dürfte ihnen egal sein. Ben und Kacey schlagen sich auch sonst irgendwie durchs Leben. Sie arbeiten mal hier, mal dort und verdienen sich mit ihrer Musik etwas dazu – auch wenn es nur ein Gratisbier ist wie bei ihrem Auftritt in einer Bar in Dawson.
Ich geniesse das spontane Konzert, das Ben und Kacey zusammen mit drei Freunden geben. Die Truppe zaubert mit Kontrabass, Handorgel, Gitarre, Geige und Singender Säge (kein Witz, das gibt's wirklich!) einen Song lebensfroher als der andere aufs Parkett. Dazu wird gesungen, getanzt und getrunken.
Doch so sehr mich das Schauspiel auch fasziniert: Mit meinen blauen North-Face-Turnschuhen, sauberen Jeans und frisch geschnittenen Haaren fühle ich mich unter den Hardcore-Aussteigern selbst als Autostöppler als Aussenseiter. Hätte ich doch zumindest mit der Rasur ein paar Tage länger gewartet, denke ich mir noch, als ich an der Theke mit Sandrine ins Gespräch komme. Die 37-jährige Französin ist vom Gebotenen ebenfalls begeistert, fühlt sich aber wie ich etwas zu angepasst, zu bieder.
Wir sind sofort auf der gleichen Wellenlänge und trinken ein paar Bierchen zusammen. Es stellt sich heraus, dass Sandrine auch auf dem Weg ist Richtung Alaska. Und da sie in ihrem Geländewagen alleine unterwegs ist, bietet sie mir an, mich mitzunehmen.
Auf der 300 Kilometer langen Fahrt auf dem «Top of the World Highway», grosse Teile davon sind Schotterstrasse, haben wir viel Zeit zum Quatschen. Dabei merke ich: Sandrine ist ebenfalls eine Aussteigerin. Nachdem sie vor ein paar Monaten von ihrem Freund sitzengelassen wurde, hat sie kurzentschlossen ein zweijähriges Arbeitsvisum für Kanada beantragt.
Nun lebt sie in ihrem Wagen und ist auf der Suche nach Gelegenheitsjobs. «Und wenn ich in Kanada meinen Cowboy finde, bleibe ich vielleicht auch für immer hier», sagt die Frohnatur. Sie lacht dabei, doch ich bin sicher, dass die Aussage ernst gemeint ist. Es scheint sie momentan wenig nach Frankreich zurückzuziehen.
Nach zwei Tagen trennen sich unsere Wege wieder und ich finde in Stephanie meine nächste Reisegefährtin. Die Mittdreissigerin ist ebenfalls ein bisschen auf der Flucht – allerdings nicht vor einer zerbrochenen Beziehung, sondern vor dem hektischen Alltag New Yorks. In Manhattan aufgewachsen, hat sie sich für einen radikalen Wandel entschieden: ein Leben in Alaska.
Auf der 500 Kilometer langen Strecke nach Anchorage kommen wir unter anderem auf die US-Wahlen zu sprechen. Im Gegensatz zum 77-jährigen Joe, über den ich vor einer Woche geschrieben habe, schwärmt Stephanie aber nicht für Donald Trump, sondern hat einen Hillary-Clinton-Sticker auf ihrem Auto. «Allerdings nur einen kleinen», sagt sie schmunzelnd und wohlwissend, dass Clinton-Anhänger in Alaska einen schweren Stand haben.
Das Schöne ist aber, dass im hohen Norden jeder seinen Platz finden kann. Es hat genug Raum für Aussteiger jeglicher Art.