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Tag zwei meiner Pazifik-Überquerung neigt sich dem Ende zu. In der Ferne sind ein paar Lichter anderer Schiffe zu erkennen. Ansonsten sehe ich nur das weisse Geländer, auf das ich meine Füsse gelegt habe, sowie die ersten Reihen der hunderten Container, die sich aufeinandergetürmt über das Deck verteilen.
«Freiheit, Freiheit», dröhnt Marius Müller Westernhagens Stimme aus meinen Kopfhörern. Ich muss schmunzeln. Wir Menschen sind schon lustig: Die Fahrt auf hoher See gilt als Inbegriff von Freiheit und Abenteuer – dabei ist man in seiner unmittelbaren Freiheit nirgends so stark eingeschränkt, wie wenn man von den Weiten des Meeres umzingelt ist. Naja, ausser vielleicht im Flugzeug.
Eine schwere Metalltür fällt lautstark ins Schloss und reisst mich aus meinen Gedanken. Auf dem Deck über mir gönnt sich jemand eine Zigarette vor dem Schlafengehen. Ich erkenne das schmale Gesicht, den weissen Bart und die dichten Augenbrauen des Chief Engineers, eines mittelgrossen, schlaksigen Mannes in seinen 50ern.
Er ist einer von vier Deutschen, mit denen ich den Speisesaal teile. Trotz gleicher Muttersprache war es bis jetzt schwierig, mit den wortkargen Seebären ins Gespräch zu kommen. Ich gebe mir deshalb einen Ruck und steige die Treppen hinauf.
«Guten Abend», sage ich in Richtung des Glimmstengels, der im Dunkeln leuchtet. «Sie sind der Chief Engineer, richtig?»
Er: «Ja».
Ich: «Ähm, ich hätte da eine Frage: Wäre es möglich, dass ich mir in den nächsten Tag mal den Maschinenraum anschauen dürfte?»
Er: «Morgen haben wir keine Zeit dafür. Dann legen wir in Busan, Südkorea, an.»
Ich: «Es muss nicht morgen sein. Einfach irgendwann in den nächsten zwei Wochen. Ich bin ja bis Kanada auf dem Schiff.»
Er: «Ich muss schauen, ob ich Zeit habe.»
Peinliche Stille. Schliesslich sage ich kleinlaut: «Okay, vielen Dank. Ich würde mich sehr freuen.» Dann verziehe ich mich wieder auf mein Deck.
Anstatt in meine Kabine zu gehen, entscheide ich mich für einen Besuch im Gemeinschaftsraum. Hier wird nicht Deutsch, sondern Tagalog gesprochen, die Sprache der Filipinos. Obwohl das Frachtschiff unter deutscher Flagge fährt, stammen 17 der 22 Mannschaftsmitglieder aus den Philippinen. Eine solche Zusammensetzung ist nichts Aussergewöhnliches, die Philippinen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zur Seefahrernation Nummer eins entwickelt.
Als ich den Raum betrete, wird mir sofort ein Platz angeboten und ich werde von allen Anwesenden mit einem Lächeln begrüsst. Doch das Lächeln täuscht, die Stimmung ist mässig: «Der Captain öffnet die Vorratskammer nicht. Wir haben deshalb kein Bier – und das schon seit einer Woche», erklärt mir einer auf Englisch.
«Sprecht den Captain doch darauf an», schlage ich vor.
«Oh, nein, nein. Der Captain ist der Chef. Er allein entscheidet, wann er unsere Bestellungen ausliefert. Darüber wird nicht diskutiert.»
«Verstehe», sage ich. In Wahrheit finde ich den schweigsamen, militärischen Gehorsam aber ziemlich unsinnig. Vielleicht hält der Captain die Vorratskammer ja gar nicht bewusst unter Verschluss, sondern er weiss schlicht nicht, dass seine Mannschaft auf dem Trockenen sitzt. So oder so, mir bietet der Versorgungsengpass die Möglichkeit, etwas Goodwill zu schaffen: Vielen Crewmitgliedern sind auch die Zigaretten ausgegangen. Und da ich in Shanghai zehn Packungen mit an Bord genommen habe, helfe ich aus.
Den Tag hindurch sehe ich die Mannschaft kaum. Die meisten sind mit Reinigungs-, Wartungs- sowie Reparaturarbeiten im Maschinenraum und auf dem Deck beschäftigt, einige wenige stehen auf der Kommandobrücke, von der aus das Schiff gesteuert wird.
Wer als Passagier auf einem Frachtschiff mitreist, muss sich deshalb selbst unterhalten können. Internetverbindung? Fehlanzeige. Mobilnetz? Nur in Küstennähe.
Zwei Wochen lang gibt es für mich nur drei Fixpunke pro Tag: Frühstück, Mittag- und Abendessen. Nach den europäischen, erstaunlich abwechslungsreichen Mahlzeiten setze ich mich jeweils eine halbe Stunde im Freien auf einen Stuhl und bestaune das Aufeinandertreffen von Himmels- und Meeresblau.
Danach nehme ich die paar Stufen zur Kommandobrücke hinauf. Die restlichen Stunden verbringe ich mit Lesen, Schreiben und dem Ordnen von Reisefotos. Trotz dieses sehr überschaubaren Programms ist mir nie langweilig.
Ich bin in den letzten 14 Monaten so oft unterwegs gewesen, habe so viele Städte besichtigt und unzählige Male meinen Rucksack gepackt, dass mir die zwei Wochen in der leicht schaukelnden Schiffskabine gut tun – zumal meine Kabine deutlich grösser ist, als ich erwartet hatte.
«Du hast Glück», sagt mir der Steward, «die Kabine, die eigentlich für dich vorgesehen gewesen wäre, ist kleiner. Aber dort ist die Toilette defekt.» Ich habe keine Mühe, dieses Upgrade zu akzeptieren. Schliesslich habe ich für die Reise 2350 Franken bezahlt. Ein stolzer Preis, selbst wenn die Mahlzeiten inbegriffen sind.
Mein ursprünglicher Plan war es, auf einem Frachtschiff zu putzen und als Gegenleistung kostenlos über den Pazifik zu gelangen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Stattdessen musste ich mir selbst meinen Platz als Passagier hart erarbeiten: Neben Versicherungsnachweisen, Visa-Bestätigungen und sonstigem Papierkrieg brauchte es auch eine Gelbfieberimpfung in Bangkok und einen Arztbesuch in Tokyo, um von der Reederei grünes Licht zu erhalten.
Endlich an Bord, geniesse ich das geräumige Wohnzimmer deshalb in vollen Zügen: Es hat einen Tisch, zwei Sofas, drei Sessel, Wandschränke mit überflüssig vielen Schubladen und auch Kühlschrank, Fernseher sowie Musikanlage fehlen nicht. Das Doppelbett in einem anderen Raum und das Badezimmer lassen ebenfalls nichts zu wünschen übrig.
Unvorhergesehenes passiert während der zweiwöchigen Fahrt nur ganz selten: Einmal sorgt ein ohrenbetäubender Fehlalarm, ausgelöst durch Arbeiten im Maschinenraum, für etwas Unruhe. Einmal steht eine Notfallübung auf dem Programm, an der auch ich als Passagier anwesend sein muss. Und nach etwas mehr als einer Woche entschliesst sich der Chief Engineer dazu, mir doch eine Führung durch den Maschinenraum zu geben.
Die riesigen Pumpen, Kompressoren und Belüftungsanlagen sind beeindruckend. Besonders faszinierend finde ich aber, dass der Chief Engineer während der Besichtigung richtiggehend aufblüht. Plötzlich wirkt der Norddeutsche nicht mehr wie ein brummiger Seebär, sondern wie ein glückliches Kind, das stolz sein Lieblingsspielzeug präsentiert. Hätte ich nur ein klein wenig mehr technisches Know-how, wären aus den eineinhalb Stunden im Maschinenraum sicher drei geworden.
Die Mahlzeiten mit dem deutschen Teil der Crew verlaufen ebenfalls Tag für Tag gesprächiger. Die erfahrenen Seemänner tendieren allerdings dazu, selbst die unglaublichsten Dinge völlig emotionslos zu erzählen. Der Zweite Ingenieur zum Beispiel sagt mir, ohne mit der Wimper zu zucken: «Als Seemann ist es nicht möglich, Freunde zu haben. Jeder, der etwas anderes sagt, belügt sich selbst.»
Der 63-jährige Schiffsmechaniker – seit 43 Jahren auf See – setzt noch einen drauf. Er erwähnt ganz beiläufig, dass er in der Nähe von Island mal mit einem Schiff gekentert sei. «Mehrere Männer kamen dabei ums Leben», sagt er – und schiebt sich ein Stück Steak in den Mund.
Zu einem Piratenüberfall verliert er noch weniger Worte. Er weiss nicht einmal mehr so genau, wo genau in Afrika das schon wieder war.
Die Arbeit ist auch immer wieder ein Thema – insbesondere die Zusammenarbeit mit den Filipinos. Das Verhältnis ist nicht grundsätzlich schlecht, aber es gibt Spannungen. «Das ist typisch», so der allgemeine Tenor in meinem Speisesaal, als an einem Tag herauskommt, dass die Toilette neben dem Gemeinschaftsraum der Filipinos seit Wochen verstopft ist. «Alle haben es gewusst – und einfach die Augen zugemacht. Wir werden ja sehen, ob es sich für die Reederei langfristig ausbezahlt, wenn die Schiffe eines Tages ganz ohne Europäer fahren.»
Die deutsche Reederei hat den Anteil europäischer Crewmitglieder in den vergangenen Monaten Schritt für Schritt verkleinert. In naher Zukunft soll die gesamte Besatzung in asiatischen Ländern rekrutiert werden – aus Kostengründen.
Für die Arbeitsmoral der deutschen Besatzung sind diese Pläne natürlich wenig förderlich. Einer fragt bitter: «Wieso soll ich mir Mühe geben, die jungen Filipinos auszubilden? Nur damit sie mir anschliessend den Arbeitsplatz wegnehmen?» Zwei, drei Filipinos wiederum lassen mir gegenüber durchblicken, dass sie sich von einigen Deutschen zu wenig respektvoll behandelt fühlen.
Am Sonntagnachmittag ist das aber alles plötzlich vergessen: Der Captain öffnet die Vorratskammer und spendiert der Crew eine Kiste Bier. Die Filipinos beginnen, Karaoke zu singen. Mal auf Tagalog, mal auf Englisch. Ich erfülle meine Pflicht mit «Let it be» von den Beatles. Als sich am Abend dann auch der Captain sowie der polnische Chief Officer für ein paar Stunden dazugesellen, ist die Seemannswelt wieder vollständig in Ordnung.
Ich koste die bierselige Stimmung aus: Ein 23-jähriger Kadett klagt mir von seiner grossen Liebe in den Philippinen, die ihn verlassen habe, weil sie keine Fernbeziehung führen wollte. Sein gleichaltriger Kollege im selben Rang erzählt mir von seinen Träumen, die er zu Hause verwirklichen will, sobald er auf See genügend Geld gespart hat.
Und von der 23-jährigen Wischerin – es hat auch zwei Filipinas an Bord – will ich wissen, ob es für sie kein Problem sei, die ganze Zeit nur Männer um sich zu haben. Sie schüttelt strahlend den Kopf: «Bis jetzt wurde ich von den Jungs immer sehr gut behandelt.»
Um drei Uhr morgens gehöre ich zu den letzten, die den Gemeinschaftsraum verlassen. Beim Aufräumen frage ich einen der Filipinos, wohin ich den Karton mit den leeren Bierflaschen bringen soll. «Einfach ins Meer werfen», ist die Antwort. Als ich protestiere, sagt er ziemlich verständnislos: «Das ist okay, wir sind nicht mehr in Küstennähe.» Dass das Meer deswegen genau gleich verschmutzt wird, scheint er nicht zu verstehen.
Das Highlight meiner zweiwöchigen Pazifik-Überquerung kommt dann ganz zum Schluss: die Ankunft in Kanada. Während wir der Küste immer näher kommen, springen in der Ferne Wale kraftvoll aus dem Wasser.
Dann nähert sich uns ein Helikopter, der den kanadischen Schiffslotsen in James-Bond-Manier auf der Kommandobrücke absetzt. Und schliesslich bietet sich uns ein Sonnenuntergang, der so unglaublich schön ist, dass selbst der Captain seine Kamera aus der Kabine holt.
Es ist ein magischer Moment: Die Crew, das Schiff – alles ist noch genau gleich wie vor zwei Wochen. Doch jetzt sind wir nicht mehr in der hektischen, quälend heissen und von Abgasen geplagten Millionenstadt Shanghai, sondern im ruhigen, angenehm kühlen und von wunderbarer Seeluft umgebenen 12'000-Einwohner-Städtchen Prince Rupert.
Ich muss an Westernhagens Song denken und komme zur Erkenntnis: Es ist eben doch gerechtfertigt, dass die Schifffahrt für grenzenlose Freiheit steht!