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Per Autostopp um die Welt – Woche 69: Von Anchorage (Alaska) nach Dawson Creek (Kanada)
Es wird langsam kalt in Alaska. Bevor ich mein Zelt zusammenpacken kann, muss ich an der Aussenwand gefrorene Wassertropfen abschaben.
Am Strassenrand mache ich dann ein Selfie mit meiner Kamera. Nicht zur Selbstdarstellung, sondern um zu überprüfen, ob mein Gesicht einigermassen Autostopp-tauglich ist. Das Ergebnis ist negativ: Die Tränensäcke unter den Augen und die rote Nase verraten, dass ich eine ungemütliche Nacht hinter mir habe.
Auf meiner Reise liessen schon zahlreiche Fahrer durchblicken, dass sie mich nur mitgenommen hätten, weil ich sauber und gepflegt aussähe. Auf diesen Bonus muss ich heute verzichten. Nach drei Minuten kommt das erste Auto um die Kurve – und hält trotzdem an.
In Mings warmem Wagen sage ich erleichtert: «Ich dachte, dass es heute schwierig wird mit Autostöppeln, weil ich so kaputt aussehe.» Die 25-jährige Amerikanerin antwortet frech: «Glück gehabt! Ich habe dein Gesicht gar nicht gesehen, weil mich die Sonne geblendet hat.»
Die Chemie stimmt auf Anhieb. Schon nach wenigen Minuten bietet mir Ming an, mich nicht nur bis ins 200 Kilometer entfernte Tok, sondern bis ins 800 Kilometer entfernte Whitehorse mitzunehmen – also bis nach Kanada.
Die neunstündige Fahrt vergeht wie im Flug. Wir finden immer ein Gesprächsthema: Familie, Beziehung, Arbeit, Politik. Schliesslich kommen wir irgendwie auf Religionen zu sprechen. Ming: «Ich bin Mormonin. Oder zumindest war ich das bis vor kurzem. Seit ein paar Monaten gehe ich nicht mehr in die Kirche.»
Ich kenne mich mit dem Mormonentum überhaupt nicht aus. Ich weiss nur, dass der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney Mormone ist, dass Mormonen sehr fromm leben, oft viele Kinder haben, der Glaube in ihrem Leben einen sehr hohen Stellenwert einnimmt – und dass ihre Religion umstritten ist. Wieso das so ist, wird mir klar, als mir Ming die Gründungsgeschichte erzählt:
1820 erscheinen dem 14-jährigen Joseph Smith im Osten der USA Gott und Jesus Christus. Sie sagen ihm, dass alle bestehenden Kirchen vom rechten Weg abgekommen seien. Ein paar Jahre später hat Smith weitere Erscheinungen, diesmal von einem Engel namens Moroni.
Dieser gibt ihm den Auftrag, goldene Platten, die seit Jahrhunderten auf einem nahen Hügel lagern, ins Englische zu übersetzen. Dies gelingt Smith dank Sehersteinen, die bei den Platten liegen. So entsteht das «Buch Mormon», ein Bericht von Propheten aus alter Zeit und das Evangelium Jesu Christi in seiner Fülle.
Nach der kurzen Einführung von Ming schweige ich einen Moment. Ich glaube nicht einmal daran, dass vor 2000 Jahren einer übers Wasser gehen konnte. Die göttlichen Eingebungen Smiths halte ich deshalb ebenfalls für eher unwahrscheinlich – diplomatisch ausgedrückt. Aber eine Diskussion über die Wahrscheinlichkeit von religiösen Erzählungen macht wenig Sinn.
Das Wort «Glaube» spricht ja für sich: Man glaubt, oder eben nicht.
Auf jeden Fall will ich Ming nicht vor den Kopf stossen, schliesslich war sie bis vor kurzem eines der weltweit rund 14 Millionen Mitglieder der «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage» (8500 davon leben in der Schweiz). Von klein auf wurde ihr das Buch Mormon als heilige Schrift gepriesen und Joseph Smith als Prophet. Ich frage sie deshalb vorsichtig: «Wieso bist du aus der Kirche ausgetreten?»
Die Antwort überrascht mich. Nicht die zahlreichen Verbote, die Ming direkt betreffen, haben sie zum Austritt bewogen. Kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen, kein Kaffee, kein Tee – das alles hätte Ming noch akzeptiert. Nein, das Fass zum Überlaufen gebracht hat die Tatsache, dass ihre Kirche nichts wissen will von der gleichgeschlechtlichen Ehe:
Ming ist zu empathisch, zu lieb, zu gut, zu fromm für die Frommen. Da erinnere ich mich doch prompt auch wieder an meinen Glauben – den Glauben in das Gute im Menschen. Und in Mings Wagen wird es gerade noch einmal ein bisschen wärmer.