Der junge Mann, der sich mir als Jack vorstellt, ist aussergewöhnlich: Er ist ein allein reisender Chinese. In der 50-köpfigen chinesischen Touristengruppe – in die ich hineingeraten bin, weil ich über das Hostel eine Tagestour gebucht habe – ist der 24-Jährige neben mir der Einzige, der niemanden aus der Gruppe kennt.
Doch nicht nur das macht Jack speziell. Bemerkenswert ist auch, dass er bereits in seinem jungen Alter eine eigene Firma auf die Beine gestellt hat. Sein Crowdfunding-Portal, eine Internetplattform, die Unternehmern hilft, Investoren zu finden, bietet mittlerweile neun Menschen eine Beschäftigung. Das Business laufe gut, habe aber auch seine Tücken: «Unseriöse Unternehmer missbrauchen unsere Plattform, um schnell an viel Geld zu kommen – und machen sich dann aus dem Staub.»
Ein Internet-Jungunternehmer in China – das Mittagessen mit Jack wäre auch dann nicht langweilig geworden, wenn er nach einer halben Stunde nicht plötzlich gefragt hätte: «Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?» Überrascht antworte ich: «Klar, du kannst mir alles sagen.» Also eröffnet er mir scheu: «Ich bin schwul.»
Sein Outing kommt völlig aus dem Nichts, im ersten Moment fällt mir deshalb nichts Besseres ein, als zu sagen: «Okay, das ist kein Problem für mich.» Dann frage ich neugierig: «Wie ist es in China für Schwule?»
Er wirkt erleichtert und beginnt aufgeregt zu erzählen: «Es ist ein totales Tabu in unserer Gesellschaft, auch von der Regierung wird das Thema ignoriert.» Gewalttätige Übergriffe gegen Schwule seien zwar sehr selten, im Internet agierten Schwulenorganisationen relativ frei und in grösseren Städten gebe es gar Gay-Bars.
Von einem unbeschwerten Leben könnten Schwule in China aber trotzdem nur träumen. Jack: «Das grosse Problem ist meist die Familie. Sehr viele Schwule heiraten deshalb einfach eine Frau, damit sie Ruhe haben.»
Dass das auf die Dauer nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand. «Wissen deine Eltern, dass du schwul bist?», frage ich Jack. «Ja, ich habe es ihnen gesagt. Es war aber nicht einfach.» Wegen der Tabuisierung sei seinen Eltern gar nicht bewusst gewesen, dass es in China Homosexuelle gebe.
Seine Mutter habe ihn deshalb zu einer Psychologin geschleppt. Jack: «Die Psychologin hatte für Schwule offensichtlich nicht viel übrig. Sie hat meiner Mutter aber zumindest gesagt, dass sich daran kaum etwas ändern lasse.»
Trotz des unfreiwilligen Besuchs bei der Psychologin sagt Jack, dass seine Eltern vergleichsweise gut reagiert hätten: «Sie haben mich mittlerweile so akzeptiert, wie ich bin. Bei vielen meiner schwulen Freunde ist das nicht der Fall. Bei einigen kam es sogar zum Bruch mit dem Elternhaus.»
Jack spricht mit seinen Freunden offen über seine Homosexualität. Bei seinen Eltern forciert er das Thema aber nicht. Denn es gibt noch einen wunden Punkt: Sie wünschen sich ein Enkelkind – und wegen der chinesischen Ein-Kind-Politik ist ausser Jack niemand da, der diesen Wunsch erfüllen könnte.
Doch Jack hat seine Eltern beruhigt: «Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich mithilfe einer Leihmutter im Ausland fortpflanzen könne.» Er sagt das so dahin, als sei es die einfachste Sache der Welt. Es wirkt, als ob er sich noch nicht wirklich vertieft mit dem Thema Leihmutterschaft auseinandergesetzt hat. Doch ich bohre nicht nach.
Stattdessen will ich von Jack wissen, welche Änderungen er sich von der chinesischen Regierung wünsche. Ich denke an die Legalisierung der Homo-Ehe oder gar an das Adoptionsrecht für Schwule. Jack überrascht mich jedoch erneut: «Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen.» Die Bürokratie sei extrem mühsam und die Steuerbelastung viel zu hoch.
Damit ist die Diskussion über Homosexualität in China genauso schnell wieder beendet, wie sie angefangen hat.