Meine Grossmütter selig hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die eine eine Macherin, ständig in Bewegung, zum reden fehlte ihr die Zeit. Die Mama meines Vaters war da anders. Ich nannte sie «Baba Jagoda». «Baba» heisst «Grosi» und «Jagoda» «Erbeere». Meine Oma hiess wirklich «Erdbeere».
Ein Beeri war sie auch, die Gute. Baba Jagoda, geboren 1927 im heimischen Wohnzimmer weit weg von jeglicher Zivilisation, verbrachte die erste Hälfte ihres Lebens im elterlichen Haus. Die zweite im Städtchen, aus dem mein Opa stammte. Dazwischen: gerade mal zehn Kilometer.
Weiter weg hat es Baba nie geschafft. Was sie null störte. «Was du nicht kennst, vermisst du nicht», pflegte sie zu sagen. Mir das erste Mal, als ich 15 war. Damals hatte sie grosse Panik, dass mit meinem Schulschatz mehr als Händchen halten läuft. «Beischlaf ist böse», sagte sie. Zumindest vor der Ehe. Danach gehöre er halt dazu. Meine Mutter fuhr dem Erdbeeri über den Mund und warf mir einen «Mach Airolo-Göschenen»-Blick zu.
Der grosse Stress meiner Baba fing schon an, als ich 13 war und in meine Dauerwelle auch noch blaue Strähnen färbte. Warum ich komplett asozial sei, wollte sie von meinen Eltern wissen, während ich über Kopfhörer Nirvana hörte.
Meine Haare, der viel zu kurze Rock, das Nasenpiercing, wir waren stets in Sorge um Babas Herz. Dass dieses noch fast 20 Jahre weiter schlagen und toben würde, wussten wir damals noch nicht.
Als ich mit 17 das Elternhaus verliess, um in der Westschweiz als Au-pair-Mädchen zu arbeiten, stand Erdbeeris Welt definitiv Kopf. Sie verfluchte die Schweizer Mentalität. Jegliche Erklärungsversuche prallten an ihr ab.
Mein Papa hatte schon lange resigniert. Meine Mutter versuchte stets aufs Neue, den Spagat zwischen der alten Dame und mir, dem jungen Mädchen aus der Schweiz, zu schaffen. Sie hat das für ihre Schwiegermutter gemacht. Ich war 17. Mir war sowieso alles scheissegal. I miss you, Pubertät.
Dass ich mit 18 mit meiner Schwester und ihrer Freundin unsere erste WG in Zürich bezog, haben wir dem Erdbeeri verschwiegen. Auch von der Existenz meines ersten Freundes, den ich mit 19 kennenlernte und mit dem ich sechs Jahre zusammen war, wusste Baba nichts. Wilde Ehe!? Teufelszeug!
Als ich zum letzten Mal mit ihr auf der Terrasse sass, war Baba schon richtig alt und gebrechlich. Sie las aus meinem Kaffeesatz. Balkan-Oma-Weisheiten! Liebe ich! Also trank ich die Brühe, drehte das Tässli um und war bereit für meine Zukunft, die laut Baba «super» wird.
Sie sieht einen Mann, der schon lange auf mich wartet. Blond. Ein Jugo. Aus gutem Haus. Geld hat er auch. Und da, sie zeigt auf einen schwarzen Fleck, ein Haus! Mit Garten. Drei Kinder. Ich mit Schürze am Herd.
Kochen find ich nicht nur scheisse, ich kann's auch nicht. Das sage ich und ernte den nächsten Anschiss: Ich solle es gefälligst lernen, wenn das mit dem blonden, reichen Jugo, den Kids, dem Haus und dem Garten was werden soll.
In der Zwischenzeit sind zwölf Jahre vergangen. Ich habe keinen blonden reichen Jugo-Mann, keine drei Kinder, kein Haus und keinen Garten. Das Erdbeeri ist zwischenzeitlich nach einem langen und erfüllten Leben von uns gegangen.
Manchmal fühlt es sich so an, als wäre sie noch da. So wie vor ein paar Wochen, als die Erde kurz bebte. Ich weiss nicht, ob es wirklich nur ein Erdbeben war oder ob sich das Erdbeeri gerade im Grab umgedreht hat. Weil ihr jemand gesteckt hat, dass ich immer noch alleine wohne, vorehelichen Sex habe und keine Cevapcici zubereiten kann.
Eure Ludmila