Das Internet hat die Welt verändert. Der virtuelle Raum ist zwar ein nützliches Instrument, er kann aber auch ein Fluch sein. Denn er beherbergt nicht nur Leute, die in guter Absicht arbeiten oder sich vernetzen.
In diesem Kosmos tummeln sich auch üble Gestalten, die skrupellos gefährliche Aktionen durchführen. Hacker erpressen Firmen und Spitäler, Autokraten und Diktatoren versuchen, die Wahlen zu manipulieren, auch in anderen Ländern.
Ausserdem ködern Pädophile Kinder, Extremisten aller Couleur beeinflussen mit Fake News die User, und Sekten umgarnen einsame und verunsicherte Personen. Um nur drei Beispiele zu nennen.
Seit einiger Zeit treiben auch dubiose Gemeinschaften ihr Unwesen im Netz, die Europol als kultartige Suizidsekten bezeichnet. Die europäische kriminalpolizeiliche Organisation warnt die Öffentlichkeit eindringlich vor diesen Gruppen, die junge Leute in Chatgruppen manipulieren würden.
Ihre Mitglieder agieren unter dem Namen «Com» oder «Communitiy» und haben sich auf die Erpressung junger Menschen spezialisiert. Sie peilen ihre Opfer anonym und unter einer falschen Identität oder einem Spitznamen auf den sozialen Medien an, vorwiegend auf den Chat-Apps Discord und Telegram. Discord hat rund 150 Millionen User weltweit, vor allem junge Leute und Gamer. Eine der grössten Com-Gruppen soll 5000 Mitglieder gehabt haben.
Ein Beispiel zeigt die perfide Strategie der «Community»: Ein junger deutscher Mann chattete mit einem labilen Mädchen, überschüttete es mit Komplimenten und baute ein Vertrauensverhältnis zu ihm auf. Er gab sich als der besorgte Freund aus, der seiner Internet-Freundin in allen Lebenslagen zur Seite stehe.
Im nächsten Schritt verlangte er Fotos von ihr. Dann Bilder, die mehr Haut zeigten. Nachdem er kompromittierende Foto erschlichen hatte, zeigte er seine wahre Absicht: Er begann, das Mädchen mit den Nacktbildern zu erpressen.
Bald darauf verlangte er von seinem Opfer, sich vor laufender Kamera zu verletzen und seinen Usernamen auf ihren nackten Körper zu ritzen. Bekannt wurde der Fall, weil er im Netz mit seinen Taten prahlte. Er schrieb: «Wenn ich sehe, wie sich jemand selbst erniedrigt, macht mich das geil», berichtete der «Spiegel».
Die Szene solcher Kultgruppen hat sich international ausgebreitet. Das deutsche Magazin erinnert an den Fall eines jungen Texaners, der die Communitiy «764» gegründet hatte. Inzwischen wurde er in den USA zu einer 80-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Auf seinem Rechner hatte die Polizei Fotos gefunden, die viele Fälle von Kindsmissbrauch dokumentierten.
Mitglieder solcher Gruppen haben bei ihren sadistischen Fantasien weitere Methode ersonnen, wie sie ihre Opfer quälen können. Manchen gelingt es, junge Frauen so stark zu erpressen und manipulieren, dass sie filmen, wie sie ihr eigenes Haustier umbringen.
Diese anonymen Gruppenmitglieder stellen die verstörenden Videos ihrer Opfer wie Trophäen ins Netz und erhalten Applaus von ihrer «Community». Unter ihnen entsteht ein fataler Wettbewerb.
Wer seine Opfer zu besonders stark erniedrigenden und zu selbstzerstörerischen Aktionen verführen oder zwingen kann, wird als Held gefeiert. Die Täter zelebrieren einen brutalen Sadismus im Netz, um ihre perversen Gelüste zu befriedigen. Dass sie dabei junge Menschen – mehrheitlich Mädchen und junge Frauen – psychisch zerstören, geilt sie besonders auf.
Inzwischen haben einzelne Mitglieder solcher Gruppen den Gipfel des Sadismus' erklommen und das Maximum an «Befriedigung» erreicht. Sie haben es geschafft, ihre Opfer in den Suizid zu treiben, wie Polizeibehörden bestätigen. Das tödliche Ritual wird wenn immer möglich gefilmt und live im Netz übertragen. Der «Spiegel» nennt das Phänomen einen digitalen Todeskult, der inzwischen auch das US-Ministerium und das deutsche Bundeskriminalamt beschäftige.
Bei ihren Recherchen arbeiteten die deutschen Journalistinnen und Journalisten mit der «Washington Post» zusammen. Dabei stiessen sie auf einen besonders brutalen Fall.
Der 25-jährige Amerikaner Samuel Hervey wird von schweren psychischen Problemen heimgesucht. Auf einer Weltreise geht ihm das Geld aus, weshalb er seine «Freunde» auf Discord um Hilfe bittet. Dabei erwähnt er seine Schizophrenie, die bei ihm manchmal Suizidgedanken auslösen würde. Mitglieder der Chat-Gruppe ermuntern ihn, sich etwas anzutun.
Sam gründet ein eigene Gruppe mit dem Namen «Suizid-Chat», die rasch wächst. Später begibt er sich auf eine Wanderung, ausgerüstet mit seinem Handy und Benzinflaschen. Unterwegs setzt er sich im Schneidersitz auf den Boden, richtet das Handy auf sich und sagt: «Jetzt werde ich fucking sterben», berichtet der «Spiegel».
Gut zwei Dutzend Personen verfolgen das makabere Schauspiel live am Bildschirm. «Sie jubeln, sie feixen, sie johlen», schreibt das Magazin. Dann übergiesst sich Sam mit dem Benzin und zündet sich an. In den Livekommentaren zollen die anwesenden Gruppenmitgliedern Sam Respekt für seine mutige Tat.
Die Reporterinnen und Reporter identifizieren eine junge Frau aus der Gruppe, die in Osteuropa lebt. Sie gesteht ihnen, dass sie in den Tagen zuvor mehrmals mit Sam telefoniert und ihn aufgefordert habe, seinen Plan umzusetzen. Wörtlich: «Wann machst du es endlich?», «Worauf wartest du noch?», «Du kannst das».
Das Beispiel zeigt, wie der Gruppendruck labile und verletzliche Menschen in die selbstzerstörerische Verzweiflung treiben kann. Es dokumentiert auch, dass das Sektenphänomen auch ausserhalb von religiösen und spirituellen Gruppen erfolgreich angewendet wird. Die Indoktrination ist ein psychisches Manipulationsinstrument, das selbst in anonymen Zirkeln und in der virtuellen Welt funktioniert.
Europol hat vor wenigen Tagen vor der «gewaltverherrlichenden kultartigen Online-Gemeinschaft» gewarnt, die auf Minderjährige zwischen 8 und 17 Jahren abzielen würde. In ihrer Mitteilung spricht die Behörde von einer weltweit operierenden Gruppierung und einem ernsthaften Risiko für die öffentliche Sicherheit. Wörtlich schreibt Europol: «Die Gruppen funktionieren ähnlich wie Sekten, in denen charismatische Führer die Anhänger täuschen und manipulieren, um sie gehorsam und abhängig zu machen.»