Im Alltag spielt der Glaube bei den meisten Schweizerinnen und Schweizern keine grosse Rolle mehr. Durch die Säkularisierung verliert die Religion laufend an Bedeutung. Gott und sein Bodenpersonal werden allmählich einsam.
In Krisenzeiten ändert sich das Bild oft schlagartig. Wenn Menschen von Ängsten geplagt werden, erinnern sie sich an die sprichwörtliche schützende Hand Gottes. Wenn von den irdischen Kräften keine Hilfe mehr zu erwarten ist, sollen es die übersinnlichen richten. Oder anders herum: Wenn sich die Wolken am Himmel zusammenziehen, wittern Religionsgemeinschaften und Sekten Morgenluft.
Dann schlägt ihre Stunde, denn Ängstliche brauchen in unruhigen Zeiten Zuspruch, Trost und Halt. Dieses Phänomen lässt sich am Beispiel des Ukrainekriegs exemplarisch aufzeigen. Landes- und Freikirchen luden landauf und landab zu Friedensgebeten ein.
An Ostern stimmte auch der Papst in den Chor der Betenden ein. Beim Ostergottesdienst sprach er den Ukrainern Mut zu: «Wir alle beten mit euch und für euch. In dieser Dunkelheit, in der ihr lebt, der Dunkelheit des Krieges, der Grausamkeit». Und auf Ukrainisch schloss er seine Predigt mit den Worten «Christus ist auferstanden».
Als stiller Beobachter stellt man sich die Frage, was die leidende Bevölkerung in der Ukraine mit diesem Satz anfangen soll. Etwa: Christus hat ein neues Leben bekommen, während Hunderte von Soldaten und Zivilisten sterben? Sollte ihnen diese Aussage Trost spenden und Mut machen?
Ratlos machen auch diese Sätze, die der Pontifex bei der Osterbotschaft sprach: «In meinem Herzen trage ich all die vielen ukrainischen Opfer, die Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die auseinander gerissenen Familien, die allein gelassenen alten Menschen, die zerstörten Leben und die dem Erdboden gleichgemachten Städte.»
Auch die «Parlamentarische Gruppe Christ & Politik» im National- und Ständerat ruft die Menschen in der Schweiz aus Anlass des Krieges in der Ukraine zum Gebet auf «für einen Waffenstillstand und Frieden in der Ukraine». Die vorwiegend aus Freikirchlern bestehende Gruppe erinnert an die Tradition «des Dankes, der Busse und der Fürbitte» und ruft die Menschen in der Schweiz zum Gebet und zur konkreten Solidarität auf.
Die meisten Friedensgebete werden naturgemäss in den katholischen und reformierten Kirchen zelebriert. Manche organisierten spezielle Anlässe, viele Geistliche sprachen Friedensgebete während den regulären Gottesdiensten.
Stellt sich die Frage, was ein Friedensgebet beinhalten oder bewirken soll. Der Zweck dieser Gebete kann nur darin bestehen, den Frieden zu begünstigen oder zu fördern. Bezüglich der Ukraine gibt es aber nur zwei Akteure, die den Krieg beeinflussen können: Gott und Putin.
Der russische Diktator wird sich kaum durch ein Gebet beeinflussen lassen. Er lässt sich von niemandem etwas sagen, wenn es um seine Kriegsziele geht. Und Gott? Auf seine Hilfe zu hoffen, wäre Zeitverschwendung. Das Elend und Leid des Kriegs offenbart einmal mehr, dass «der liebende Vater» seine vom Tod bedrohten «Kinder» nicht schützen kann oder will.
Diese schmerzliche Erfahrung machten schon Millionen im Lauf der langen Kriegsgeschichte der Menschheit. Die Ukrainer können sich nur selbst helfen, wenn überhaupt.
Unterstützung bekommen sie bestenfalls von Ländern, die ihnen Waffen und Nahrungsmittel liefern oder ihre flüchtenden Frauen und Kinder aufnehmen. Von den gutgemeinten Friedensgebeten haben sie so gut wie nichts.
Aus psychologischer Sicht haben Gebete primär für die Betenden einen Nutzen. Der gruppendynamische Prozess und die «heilige» Atmosphäre erzeugen starke Gefühle. Sie spenden allenfalls den Gläubigen Trost, die selbst Angst vor dem Krieg haben.
Die Betenden tun also sich selbst etwas Gutes. Das ist absolut okay, doch sollten sie es nicht Friedensgebet nennen. Denn die Gebete dienen dem Frieden leider nicht.