Hier, in der Anflugschneise des Zürcher Flughafens, will die Nagra den Atommüll, der von den Zwischenlagern kommt, in unterirdische Stollen verfrachten.Bild: keystone
Analyse
Was die Nagra lieber verschweigt, wenn es um das Atommüll-Tiefenlager geht
Noch ist der Entscheid über das im Zürcher Unterland geplante Tiefenlager nicht gefallen. Doch der Kampf um die öffentliche Meinung läuft.
Mithilfe von Statistik lässt sich vieles sagen. Das zeigt eine von der Nagra in Auftrag gegebene Bevölkerungsumfrage, die sich um das von ihr geplante Atommüll-Tiefenlager dreht.
Am 6. Februar 2024 verbreitete die Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA dazu eine Meldung, die von sehr vielen Medien aufgegriffen wurde. Auch von watson.
Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführte Studie, die repräsentativ sein soll für die gesamte Bevölkerung – ab 15 Jahren.
Das Problem: Die mediale Berichterstattung vermittelte ein einseitig positives Bild, was die Haltung der Befragten zur Atommüll-Problematik betrifft.
Inzwischen haben kritische Beobachter reagiert – und weisen auf ziemlich beunruhigende Erkenntnisse hin.
Noch ist nicht entschieden, wie die Schweiz mit ihrem gefährlichsten Abfall umgeht: dem hochradioaktiven Material, das aus den eigenen Atomkraftwerken (AKWs) stammt.
Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, kurz Nagra, will den Abfall im Zürcher Unterland vergraben und entwickelt derzeit im Auftrag des Bundes ein Entsorgungsprojekt. Das Problem: Die Nagra ist nicht unabhängig, sondern mit der Atomenergie-Lobby verbandelt. Und es bestehen finanzielle Anreize, das stark strahlende Material möglichst rasch unter Tage zu «entsorgen».
Die Entscheidung, ob die Schweiz ihren Atommüll tatsächlich in Stadel ZH vergräbt, hängt letztlich von der Stimmbevölkerung ab. Deshalb versuchen die Verantwortlichen, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Disclaimer
Der watson-Redaktor Daniel Schurter lebt in der Region Zürcher Unterland, die direkt von den Plänen der Nagra für ein Atommüll-Tiefenlager betroffen ist.
Wie berichteten die Medien über die Nagra-Studie?
Ausgehend von der Meldung der Nachrichtenagentur Keystone-SDA vermittelte die darauf basierende Berichterstattung der Schweizer Medien den Eindruck, dass eine relativ grosse Akzeptanz für die Nagra-Entsorgungspläne bestehe. Dies zeigt sich an den Titeln der entsprechenden Beiträge:
nzz.ch: «Sie sorgen sich mehr um Proteste als um ihre Gesundheit: Was die Anwohner vom geplanten Tiefenlager für Atommüll in Stadel halten»
srf.ch: «Nagra-Umfrage zeigt grosse Akzeptanz für Tiefenlager in Stadel»
aargauer-zeitung.ch: «Wie steht es um das Jahrhundertprojekt? Mehrheit der betroffenen Bevölkerung steht hinter Endlager-Entscheid»
Weitere Medien, darunter der «Tages-Anzeiger» und das zur CH-Media-Gruppe gehörende watson, übernahmen den von der Nachrichtenagentur vorgegebenen Titel:
Diese auf der Studie des GfS Bern basierende Meldung ging am 6. Februar «über den Ticker», das heisst, sie landete auf den Bildschirmen in den Redaktionen.Screenshot: watson
Hingegen konzentrierte sich der «Blick» in typischer Boulevardzeitungs-Manier auf einen anderen Aspekt:
blick.ch: «Wegen Atommüll-Lager in Nördlich Lägern: Zürcher Anwohner erwarten Unruhen»
In die gleiche Richtung titelte die NZZ-Printausgabe:
«Mehr Sorge wegen Protesten als um die Gesundheit»
Interessant ist schliesslich auch, wie die Agenturmeldung in der direkt betroffenen Region aufgegriffen wurde. So betitelte der «Zürcher Unterländer» seinen Online-Artikel:
«Nationale und regionale Umfrage: Die meisten haben keine Angst vor Atommüll im Stadel»
«Was wird mit diesen Umfrageergebnissen eigentlich bezweckt? Im Herbst 2024 steht die Einreichung des Rahmenbewilligungs-Gesuchs für das Kombi-Tiefenlager in ‹Nördlich Lägern› an, welches auch den Weg für die Laufzeitverlängerungen des bestehenden AKW-Parks ebnen soll.
Will die Nagra mit dieser Umfrage also ein Zeichen dafür setzen, dass die Akzeptanz des Tiefenlagerprojektes im Grossen und Ganzen bereits gegeben ist? Dass der aktive Widerstand – klein bis marginal – damit de facto nicht mehr als wesentliche Grösse zu verstehen ist? Oder gibt es auch andere Gründe für diese Umfrage?»
Buser legte den Finger auf einen wunden Punkt. Leider habe kein einziges Medium die Studie kritisch hinterfragt, und dies, obschon solche Bevölkerungsumfragen «bekannterweise über die Fragestellung massgebend beeinflusst werden».
Der unabhängige Atommüll-Experte:
«Man hätte sich beispielsweise auch Gedanken machen können, weshalb eine technisch-wissenschaftliche Institution wie die Nagra an der Frage interessiert ist, ob bei ‹gelöster Endlagerung neue Kraftwerke akzeptabel› seien.»
Und weiter:
«Wäre es nicht viel klüger und glaubwürdiger, die öffentliche Hand endlich damit zu beauftragen, genau diese Prozesse der Akzeptanz zu führen und zu analysieren und die Nagra auf das Feld zu verweisen, für das diese zuständig ist: nämlich die Bearbeitung wissenschaftlicher und technischer Sachfragen?»
Ausschnitt aus dem Schlussbericht zur kritisierten Studie:
Die befragten Personen sollten sich unter anderem auch zu diesen von den Studienverfassern vorgegebenen Behauptungen äussern. Screenshot: watson
Ausgelöst durch Busers Blog-Beitrag schaltete sich der Physiker Harald Jenny-Zihlmann ein, der sich mit anderen wissenschaftlich Interessierten zusammengeschlossen hat, um die Schweizer Atommüll-Entsorgungspläne kritisch zu begleiten. Sie haben dafür ein «Unabhängiges Schweizer Begleitgremium Tiefenlager» (USBT) ins Leben gerufen.
Das USBT steht den Nagra-Plänen im Zürcher Unterland ablehnend gegenüber. Und Jenny-Zihlmann streicht denn auch einige Punkte in der Nagra-Bevölkerungsumfrage hervor, die in der Berichterstattung darüber fehlten.
Was ist das Beunruhigende an der Nagra-Studie?
Auszug aus dem kritischen USBT-Schreiben.screenshot: watson
Unter dem Titel «Was die Nagra verschweigt» hat Jenny-Zihlmann für das USBT ein PDF-Dokument verfasst, das über eine Mailingliste verschickt wurde und watson vorliegt. Darin führt er Erkenntnisse aus der Umfrage auf, die sehr vielen Leuten zu denken geben müssten. Nämlich:
«Die Unkenntnis des Tiefenlager-Projekts ist gross.» 22 Prozent der Befragten hätten von der Tiefenlager-Thematik noch nie etwas gehört.
«Die Verunsicherung der Bevölkerung ist grösser als die Beruhigung.» Bei 50 Prozent der befragten Personen, die von der Atommüll-Entsorgungs-Thematik wussten, hätten die Marketing-Kampagnen der Nagra nicht gefruchtet. 28 Prozent seien durch das, was sie hörten, sogar eher verunsichert worden. Nur 19 Prozent eher beruhigt.
«Das Misstrauen gegenüber der Nagra und gegenüber dem Projekterfolg hält an.»
«Die Anzahl derer, die das Tiefenlager als Freipass für neue AKWs sehen, ist gross.»
Viele Befragte seien auf Suggestiv-Fragen hereingefallen. Etwa als zwei Drittel der Aussage zustimmten, ein Endlager für radioaktive Abfälle sei «eine technische Meisterleistung, auf die die Schweiz stolz sein könne».
Jenny-Zihlmanns kritischer Kommentar dazu:
«Die Frage, ob es ebenfalls eine Meisterleistung sei, die Abfälle mitten in einer dichtbesiedelten Agglomeration, direkt in der Anflugschneise eines Flughafens, in nächster Nähe zu einem Hauptgewässer Europas, in einer nur 100 Meter starken Opalinustonschicht, umgeben unten und oben von Wasser, welches unter anderem für Heilbäder verwendet wird, etc. zu bauen, wird naturgemäss nicht gestellt. Sie hätte wohl eine gleich hohe Ablehnungsquote zur Folge.»
«Der Nutzen eines Tiefenlagers für die betroffene Region wird klar in Abrede gestellt.»
«Die Verseuchung der Region kümmert nur eine kleine Minderheit.» Interessant sei, dass nur ein Drittel der Befragten eine Verseuchung der Umwelt durch das Lager für realistisch halte, obwohl bekannt sei, dass radioaktive Substanzen nach 10'000 bis 100'000 Jahren an die Erdoberfläche diffundierten. Immerhin erfreulich sei, dass sich doch noch 46 Prozent der Befragten über Gesundheitsrisiken für sich und insbesondere spätere Generationen Gedanken machten.
Weiter weist Jenny-Zihlmann auch auf interessante Punkte hin, die in der Bevölkerungsumfrage fehlten:
«Die Frage, ob auch eine Tiefenlagerung im Ausland vorstellbar wäre, wenn dadurch signifikante Sicherheitsvorteile entstünden, sowie andere über das aktuelle Projekt hinausgehende, relevante Fragestellungen fehlen in der Umfrage völlig.»
Das ernüchternde Fazit des USBT-Mannes:
«Die Erkenntnisse offenbaren, dass schweizweit ein grosses Informationsdefizit besteht, und dass die Schlussfolgerung der Nagra ‹Die Akzeptanz ist schweizweit hoch› von den GFS-Ergebnissen nicht gestützt wird.»
Unabhängige Kritiker
Das Unabhängige Schweizer Begleitgremium Tiefenlager (USBT) ist gemäss eigenen Angaben «ein Zusammenschluss von Tiefenlagerexperten aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft mit langjähriger Erfahrung in der Problematik der radioaktiven Abfälle». Die Vereinigung beschreibt sich als staats- und organisationsunabhängig und man stelle «die dringend nötigen, unangenehmen Fragen zum Schweizer Sachplan geologisches Tiefenlager».
Die Schweiz hat ein Entsorgungsproblem, das auch hunderte, ja tausende Generationen nach uns betrifft und gefährden wird. Es ist der hochgiftige, stark strahlende Atommüll...
quelle: shutterstock
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Die beliebtesten Kommentare
Wat Sohn
04.04.2024 09:56registriert Juni 2017
Endlagerung im Ausland ist KEINE Lösung! Das ist UNSER Dreck, um den WIR uns kümmern müssen.
Das Thema ist technisch komplex. Ich würde behaupten, 90% der Menschen haben keine Ahnung von Halbwertszeiten, Dosis, und Alpha-, Beta-, Gamma-Strahlung und wie die Zusammenhänge aussehen. Klar ist da eine Umfrage mehr "gschpürschmi" als sonst was...
Es fehlt jegliche Frage, die auf einen Standort abzielt, weil jeder weiss, dass man im eigenen Vorgarten sowas nicht haben möchte. Zudem zielen die Fragen darauf ab, dass die Bevölkerung den wissenschaftlichen Aussagen vertraut. Leider sind diese Wissenschaftler wirtschaftlich und politisch beeinflusst. Denn geologisch geschulte Fachleute sollten eigentlich wissen, dass es in der Schweiz wohl gar keinen sicheren Standort gibt, der im angedachten Zeitraum geologisch und hydrologisch stabil bleiben wird. Es gibt maximal bessere und schlechtere Standorte, aber keine guten.