In der Schweiz kommen bei Abstimmungskämpfen manipulative Techniken zum Einsatz. Das hat die Analyse der Botschaften auf dem Nachrichtendienst Twitter anlässlich der No-Billag-Kampagne gezeigt. An der Fachhochschule Nordwestschweiz hat ein fünfköpfiges Team die Meinungsbildung in den acht Wochen vor der Abstimmung untersucht: knapp 200'000 Wortmeldungen von 26'000 Accounts.
Stefan Gürtler, zuständig für die Datenerhebung im Forscherteam, ist überzeugt, dass Meinungsroboter und die Fake News, die diese in Umlauf setzen, im politischen Diskurs künftig eine ernstzunehmende Rolle spielen werden: «Noch zielt vieles ins Leere, doch die Qualität der Fake News wird zunehmen. Auch ihre Tarnung wird besser. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Gesellschaft auf diese Entwicklung aufmerksam wird», so Gürtler im Interview.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die No Billag-Initiative im Netz zu untersuchen?
Stefan Gürtler: Weil die gesellschaftliche Diskussion ungewöhnlich früh begonnen hat. Erste Mobilisierungsspitzen waren bereits letzten September festzustellen. Meistens kommt eine Kampagne zwei Monate vor der Abstimmung in Fahrt. Hier waren es sechs Monate vorher. Der Entschluss für das Forschungsprojekt war quasi eine Weihnachtsaktion. Da musste es dann plötzlich schnell gehen, damit wir live dabei sein konnten. Wir wollten die Daten zeitnah sammeln und gleichzeitig analysieren. Dass das so kurzfristig möglich war, ist massgeblich der Hasler Stiftung in Bern zu verdanken, die Forschungsprojekte zu Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft unterstützt.
Warum haben Sie Twitter untersucht, nicht Facebook oder beide?
Das ist die Bequemlichkeit des Forschers (lacht). Twitter ist ein offenes Netzwerk, das für die Analyse bessere und einfachere Datenschnittstellen bietet als andere Soziale Medien. Das vereinfacht die Anwendung für jeden Nutzer. Die Kehrseite davon: Twitter ist leichter zu manipulieren als andere Dienste.
Was waren Ihre Forschungsfragen?
1. Stehen Technologien zur Verfügung, um Abstimmungen diskussionsmässig zu beeinflussen. 2. Sind Schweizer und Schweizerinnen bereit und fähig diese Technologien einzusetzen. 3. Zeigen sich auffällige Muster, zum Beispiel eine sehr hohe Frequenz von Nachrichten oder koordinierte Aktivitäten von mehreren scheinbar selbstständigen Nutzern oder Accounts, wie das technisch heisst. Die Antwort auf die erste Frage kannten wir natürlich vorher. Man denke an die Diskussion rund um die Wahl von Donald Trump und die Firma Cambridge Analytica.
Und wie lauten die Antworten auf die anderen zwei Fragen?
Ja, in beiden Fällen. Bei einem Prozent der Accounts haben wir Manipulationen gefunden. Sie setzten 200 bis 1000 Nachrichten pro Tag ab. Nur 50 Nutzerinnen haben so 50 Prozent der No-Billag-Kommunikation erzeugt. Etwa ein Fünftel dieser Meldungen bezog sich auf die Abstimmung, der Rest auf andere populäre Politthemen. Verschiedene Twitterdiskussionen verfolgen und grosse Mengen an Tweets schreiben, beantworten und weiterleiten kann man nur mit technischen Hilfsmitteln. Zum Teil haben sie in einer Zehntelsekunde Nachrichten beantwortet oder weiterverbreitet. Kein Mensch kann so schnell tippen! Solche mit technischer Unterstützung kommunizierende Nutzer werden als Cyborgs bezeichnet. Social Bots, also selbstständig agierende Computerprogramme, waren hingegen weniger im Umlauf und setzten weit weniger Meldungen ab.
Wie sind Sie vorgegangen?
Zuerst mussten wir sicherstellen, dass wir genügend Rechnerleistung zur Verarbeitung grosser Datenmengen hatten. Vor allem die Analyse ist rechenintensiv. Im Strom der Twitternachrichten haben wir zuerst nach eindeutig der Abstimmung zuordenbaren Signalwörtern gesucht, beispielsweise nach den Hashtags #NoBillag und #NoSendeschluss, welche von den Befürwortern und Gegnern der Initiative eingeführt wurden. Mit Maschinen-Algorithmen wurden Begriffe und Nutzer identifiziert, welche im Zusammenhang mit diesen Signalwörtern häufig auftauchten. Diese wiederum wurden als Suchbegriffe eingesetzt. Abgesucht haben wir zwischen dem 7. Januar und dem 4. März knapp 4'000'000 Tweets. In einem nächsten Schritt haben wir die Anschlusskommunikation rausgefiltert, die das Thema bloss als Sprungbrett für eigene Anliegen nutzten. Dann haben wir die Tweets dem Befürworter- und dem Gegnerlager der Initiative zugeordnet. Es hat sich gezeigt, dass 19.5 Prozent der Accounts für die Initiative waren und 80.5 Prozent dagegen. Hingegen waren die Befürworter im Verhältnis aktiver: 34 Prozent der Tweets waren für die Gebührenabschaffung.
In allen Landessprachen?
Ja, ich erinnere mich sogar an einige Tweets in Rumantsch. Die lebhafte und lange Kampagne hat auch Netzwerkaktivisten von jenseits der Grenze angezogen: Auch in Deutschland und Österreich läuft eine Gebührendiskussion. Für viele Nutzer ist die Gebührenfrage natürlich auch ein Aufhänger, um staatliche Aktivitäten kritisch zu hinterfragen. So mischten sich denn auch Migrations-, Islam- oder Sozialabbau-Themen in die Billag-Kommunikation, und, weil die politische Netzkommunikation buchstäblich grenzenlos ist, Fragen zur deutschen Kanzlerin. Sogar antiwestliche russische Netzaktivisten meldeten sich zu Wort, allerdings mit begrenzter Resonanz.
Wie gefährlich schätzen Sie die Manipulationen ein, die Sie gefunden haben?
Ich muss klarstellen, dass wir nicht die Wirkung der Botschaften untersucht haben. Das hätte den Rahmen des Projekts gesprengt. Es ging uns auch nicht darum, die Manipulierer, also die Cyborgs, zu enttarnen. Was sie tun, ist nicht illegal. Doch wenn die manipulativen Aktivitäten im Netz zunehmen, besteht die Gefahr einer Schweigespirale. Das bedeutet, dass Leute, deren Meinung von der lautstark und manipulativ geäusserten Meinung abweicht, sich zurückziehen und nicht mehr zu Wort melden. Sie glauben, in der Minderheit zu sein, und stehen nicht für ihre Überzeugung ein. In der Schweiz haben wir zum Glück einen ausgeprägten Medienpluralismus. Die meisten Leute informieren sich aus verschiedenen Quellen und sind darum nicht so leicht zu manipulieren. Twitter ist nur ein Informationskanal. Die Reichweite der No-Billag-Kommunikation auf Twitter entspricht ungefähr der Reichweite einer überregionalen Tageszeitung.
Ausserdem braucht es Spezialwissen, um einen Meinungsroboter zu programmieren ...
Eben nicht! Mithilfe von Apps kann sich heutzutage jeder User in einen Cyborg verwandeln. Um einen Social Bot zu programmieren, genügen wenige Programmzeilen. Zeitaufwand für einigermassen geübte Nutzer: eine Viertelstunde. Auf der Software-Entwicklungsplattform Github finden sich Hunderte fertig programmierter Bots, die lediglich auf ihren Einsatzzweck angepasst werden müssen. Das schafft sogar ein Laie …
Warum haben am Forschungsprojekt keine Studierenden teilgenommen?
Aus Zeitgründen. Der Einsatz und Einfluss von Meinungsrobotern ist ein spannendes Feld für Forschungsarbeiten von Studierenden. Das Projekt hat eine Reihe von Anschlussfragen aufgeworfen. Zum Beispiel, ob es in den einzelnen Sprachregionen Filterblasen und damit Unterschiede gibt. Da wir die Datensätze haben, werden wir sie auf jeden Fall weiter auswerten. (aargauerzeitung.ch)