Alle wollen etwas wissen. Mit Notizbuch und vielen Fragen umringen Studenten die Schweizer Jungunternehmerin Lea von Bidder. Was sie denn für ein Visum habe, wird die Firmengründerin gefragt, wie man von amerikanischen Investoren Geld erhalte und wann der richtige Zeitpunkt sei, um in den USA, genauer hier im Silicon Valley, ein Büro zu eröffnen. Wir befinden uns in San Francisco. Es ist einer der ersten wirklich warmen Tage dieses Jahr und zwei Querstrassen weiter werden Souvenir-Selfies vor den berühmten Cable Cars geschossen.
Für Sightseeing interessieren sich die Schweizer Studenten aber weniger. Sie sind hier, um Personen wie von Bidder zu treffen: Die 29-Jährige hat das Start-up Ava mitgegründet, dafür erfolgreich Investitionskapital gesammelt, dann ein Büro an der amerikanischen Westküste eröffnet. Und genau davon träumen auch die Teilnehmer von «Explore», einer gemeinsamen Initiative von Studenten-Organisationen der ETH Zürich und der Universität St. Gallen. Insgesamt 20 Studenten, die entweder schon eine eigene Firma gegründet haben oder diesen Schritt für die Zukunft planen, hatten vergangene Woche die Möglichkeit, das Silicon Valley zu erkunden und dabei von den Besten zu lernen.
Start-ups sind in Mode: Junge Firmengründer wie Mark Zuckerberg (Facebook) und Evan Spiegel (Snapchat) haben in der Vergangenheit eindrücklich gezeigt, wie mit Programmier-Code und einer Internetverbindung aus simplen Ideen Grosskonzerne entstehen. Davon liess sich eine ganze Generation von geschäftstüchtigen Bastlern inspirieren, die mit Elektronik und Software die Welt verändern wollen – oder zumindest einen Haufen Geld verdienen.
Und lange Zeit war klar, dass sich dafür kein Ort besser eignet als das Silicon Valley. Das ist jenes Gebiet im Norden Kaliforniens, wo dank der Konzentration von Gründern, Geldgebern und Grossunternehmen während der vergangenen Jahrzehnte ein einzigartiges Start-up-Ökosystem entstanden ist; eine Pilgerstätte für Visionäre. Für viele Experten war es deshalb lange selbstverständlich, dass auch die nächste technologische Revolution hier in Kalifornien ihren Anfang nehmen wird.
Heute gilt das nicht mehr als gesichert, scheint sich die Technologie-Branche und damit auch das Silicon Valley doch in einem fundamentalen Wandel zu befinden: Die Tech-Giganten stehen immer öfter – und immer heftiger – in der Kritik, dass sie als Quasi-Monopolisten zu mächtig und einflussreich geworden seien, dass wegen des Netzwerkeffekts und der vollen Bankkontos gar keine Konkurrenz mehr möglich sei. Die revolutionären Apps und Geräte könnten süchtig machen, heisst es weiter, und im Fall von Facebook gar missbraucht werden, um nationale Wahlen zu manipulieren.
Mark Zuckerberg wird am Dienstag sich und seine Firma vor dem amerikanischen Kongress gegen diesen Vorwurf verteidigen müssen. Lange Zeit haben Politiker die Tech-Firmen im Silicon Valley gewähren lassen und so überhaupt erst deren rasantes Wachstum ermöglicht. Mit dieser Kulanz scheint es jetzt allerdings vorbei zu sein und viele Experten gehen davon aus, dass nach den diversen Skandalen bald zusätzliche Regulierungen eingeführt werden.
Gleichzeitig wächst das Start-up-Ökosystem in anderen Regionen rasant an und das Silicon Valley verliert mit seinen exorbitanten Wohnungspreisen dadurch an Attraktivität. Aus keiner anderen amerikanischen Stadt ziehen derzeit so viele Personen weg wie aus San Francisco. Dazu gehören auch renommierte Investoren wie beispielsweise Peter Thiel, der seine Investments jetzt in Los Angeles macht und damit der Valley-Filterblase entfliehen will. Er beobachte hier nämlich «eine viel zu homogene Denkweise», sagt Thiel und spricht damit vielen Bürgern aus dem Herzen, die sich ebenfalls an der mangelnden Diversität in der Tech-Branche stören.
Das Silicon Valley sei vom eigenen Erfolg verwöhnt, hört man immer häufiger, deshalb seien die Leute faul, langsam und langweilig geworden. Löhne und Wohnungspreise haben sich zudem in den vergangenen Jahren gegenseitig hochgeschaukelt, wodurch es für Start-ups heute viel billiger ist, Programmierer in anderen Regionen der USA anzustellen. Das haben auch Tech-Giganten wie Google und Facebook gemerkt, die jüngst Büros in eher ländlichen Gegenden eröffneten, um dort neue Talente zu finden, aber auch um Angestellten, die aus Kalifornien wegziehen wollen, eine Alternative zu bieten. Aus all diesen Gründen schrieb die «New York Times» im März sogar vom «sterbenden Silicon Valley».
Der Schweizer Studenten-Delegation ging es vergangene Woche deshalb nicht nur darum, Rückmeldungen zur eigenen Firma zu erhalten, die kulturellen Unterschiede kennen zu lernen und ein Netzwerk für eine zukünftige Expansion in die USA aufzubauen, die Studenten wollten auch herausfinden, ob es überhaupt noch lohnenswert ist, sich mit dem Silicon Valley zu beschäftigen. Oder ob es dafür schon zu spät ist.
Von diesem Umschwung im Silicon Valley lese sie zwar auch immer öfter in den Medien, sagt Ava-Gründerin Lea von Bidder, aber vor Ort spüre man davon nichts: «Ich verstehe, wieso Leute von hier wegziehen wollen, aber das Silicon Valley stirbt deshalb nicht.» Und auch bei Beekeeper, dem anderen Schweizer Start-up, das in Kalifornien derzeit für Furore sorgt, merkt man nichts von einem fundamentalen Wandel. Es gebe hier nach wie vor mehr talentierte Leute als irgendwo sonst, heisst es bei der Büroführung.
Zwischen dem Besuch bei Ava und jenem bei Beekeeper liegen drei Querstrassen und fünf Tage. Diese Zeit haben die Schweizer Studenten so gut ausgenutzt, wie es nur irgendwie möglich war: Die Start-ups konnten sich bei bekannten Investoren vorstellen, haben dort Rückmeldungen zu ihren Firmen und teilweise sogar ein paar der hart umkämpften Visitenkärtchen erhalten. Und Besuche bei Firmen wie Facebook, Dropbox und Google haben verdeutlicht, was passieren kann, wenn aus den Visitenkärtchen der Kapitalgeber irgendwann ein Check und aus dem kleinen Schweizer Start-up ein internationaler Grosskonzern wird.
Das Silicon Valley bot genau jenen Glamour, den viele der Teilnehmer erwartet hatten: Modern eingerichtete Büros, eine informelle Arbeitsatmosphäre ohne eine einzige Krawatte, dazu kostenlose Mahlzeiten und T-Shirts für Besucher. Von all diesem Luxus war aber nichts mehr zu spüren, sobald man die isolierten Tech-Büros verliess und in die Unterkunft im Herzen von San Francisco zurückkehrte. Die Strassen sind dort von Obdachlosen bevölkert und Spritzen sieht man überall. Mit dem Boom der Tech-Industrie stiegen die Wohnungspreise in San Francisco ins Unermessliche.
Von Armut ist an der Stanford-Universität nichts zu spüren. Die Schule war schon immer ein Motor, der das Silicon Valley mit viel Innovationskraft antreibt. Studenten lernen hier im Detail, wie sie ihre eigene Firma gründen. Viele wichtige Tech-Firmen wurden ursprünglich in einem Stanford-Mehrbettzimmer erdacht – und das werde auch weiterhin so sein, sind die amerikanischen Studenten überzeugt.
Die wachsende Kritik an den grossen Tech-Unternehmen habe an der Elite-Uni überhaupt nichts ausgelöst und auch der aktuelle Facebook-Skandal werde nicht diskutiert, erzählt ein Stanford-Student bei der Campus-Besichtigung: «Das sind nur die Medien, die in ihrer Berichterstattung überkorrigieren, nachdem sie in den vergangenen Jahren ziemlich unkritisch über die Tech-Industrie berichtet haben. Faktisch hat sich nichts verändert.»
Stanford ist auch für Schweizer Unis ein Vorbild, wenn es um die Kommerzialisierung von Forschungsprojekten geht. «Mit solchen Events wollen wir den Horizont der Studenten erweitern und neue Perspektiven aufzeigen», sagt Manuel Buri vom START-Prgoramm der Hochschule St. Gallen. Er und seine Kollegen haben die «Explore»-Tour gemeinsam mit Vertretern des «Enterpreneur Club» der ETH Zürich geplant. Die Verantwortung lag dabei komplett bei den Studenten, Professoren oder andere Vertreter der Universitäten waren nicht involviert.
Die ETH- und HSG-Studenten erhielten vergangene Woche einen authentischen Einblick ins Silicon Valley. Sie haben gelernt, dass sie hier ohne grosse Visionen, grosse Worte und vor allem ohne grosse Profitprognosen keinen Erfolg haben werden. Sie haben aber auch gelernt, dass auch hier nur mit Wasser gekocht wird und die Unterschiede zur Schweiz gar nicht so gross sind, wie man häufig meint. Von einem «sterbenden Silicon Valley» war weit und breit keine Spur; weder bei den Firmenbesuchen noch unter den Teilnehmern war die aktuelle Kritik an den Tech-Unternehmen ein Thema.
Ob diese tatsächlich nur eine Überkorrektur der Medien ist oder ob sich das Silicon Valley schlicht taub stellt, das ist schwer abschätzbar. Spürbar dürfte der Effekt sowieso erst dann werden, wenn das Geld für die Start-ups nicht mehr auf der Strasse liegt, wenn die Kunden kritischer werden und wenn andere Regionen mit höherer Lebensqualität und tieferen Mietpreisen dem Valley ernsthaft Konkurrenz machen.
Die Schweizer Teilnehmer zumindest waren begeistert – nicht nur von den Tischtennistischen und den Gratis-Shirts, sondern auch «von der Offenheit und der Geschwindigkeit der Region». Das Silicon Valley scheint nicht zu sterben, sondern im Gegenteil bald um einige Schweizer Start-ups reicher zu sein. (aargauerzeitung.ch)