Als Elon Musk Twitter kaufte, versprach er mehr Redefreiheit. Ein Jahr später funktioniert die Social-Media-Plattform völlig anders. Wie man damit Geld verdient, hat der gebürtige Südafrikaner aber nicht herausgefunden.
Im Folgenden blicken wir zurück auf ein Jahr voller Pleiten, Pannen und gewollter «Verschlimmbesserungen», die der reichste Mann der Welt persönlich zu verantworten hat.
Im Oktober 2022 blätterte Elon Musk rund 44 Milliarden Dollar an Investorengeldern hin, um Twitter zu kaufen. Und inzwischen ist klar: Es ist unter dem Techmilliardär eine andere Plattform geworden. Das beginnt beim Namen: Was früher Twitter war, heisst jetzt X. «Die App für alles», wie Musk getreu seines jahrzehntealten Traums nicht müde wird zu betonen – auch wenn praktisch alles, was über bisherige Twitter-Funktionen hinausgeht, auf sich warten lässt.
Je nach Quelle hatte die Marke «Twitter» zu ihren besten Zeiten einen Wert von mindestens vier Milliarden US-Dollar. Andere Fachleute sprechen gemäss Medienberichten gar von 20 Milliarden. Einen «solchen Namensschatz auf den Markenfriedhof zu werfen», sei «hirnlos», kommentierte die «Handelszeitung».
Schwerer als der Namenswechsel (viele Nutzerinnen und Nutzer sagen weiter «Tweet» und «twittern») wiegen die vielen Veränderungen, mit denen der Tech-Milliardär der Plattform seinen Stempel aufgedrückt hat.
Die früher kostenlosen weiss-blauen Häkchen, die bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Medien eindeutig auswiesen, kann sich jetzt jeder für knapp zehn Dollar kaufen: ohne echte Identitätsprüfung, was die Häkchen als Verifikations-Symbole sinnlos macht.
Unternehmen können ihre X-Profile auch mit einem goldenen Häkchen-Symbol auszeichnen. Das kostet zum Beispiel in Deutschland 1130.50 Euro im Monat – plus 59.50 Euro für jeden verknüpften Mitarbeiter-Account.
Musk ist sehr präsent auf X. Er scheint sich aber in einer Blase aus ihm genehmen Profilen mit Bezahlhäkchen zu bewegen, mit denen er interagiert und deren Beiträge er weiterverbreitet. Wer keinen weiss-blauen Haken hat, ist auf der Plattform ohnehin weniger sichtbar – das solle vor Bots und Fake-Profilen schützen, heisst es.
Musk entliess in den Monaten nach der Übernahme des Unternehmens rund die Hälfte der einst rund 8000 Twitter-Angestellten. Stark davon betroffen waren neben Programmierern auch Teams, die für die Bekämpfung etwa von Hassrede und Falschinformationen auf der Plattform zuständig waren. Kein grosser Verlust aus Sicht des neuen Besitzers: Schliesslich habe das für Integrität von Wahlen zuständige Team diese eher untergraben, behauptete Musk. Unabhängige wissenschaftliche Studien zeigten das Gegenteil.
Musk steht fest auf politischen Positionen der US-amerikanischen Rechten und Rechtsextremen. Das alte Twitter habe Zensur im Sinne der Linken betrieben, behauptet er. Der «Woke-Gehirnvirus» zerstöre die Menschheit, die Demokraten von Präsident Joe Biden seien «eine Partei des Hasses», etablierte Medien seien rassistisch gegenüber Weissen, Schulen flössten «statt Wissen Gift in die Ohren unserer Kinder ein», und Europa drohe wegen der Einwanderung ein Bürgerkrieg – soweit nur einige von Musks Ansichten. Er dient für seine inzwischen gut 160 Millionen X-Follower auch gern als Verstärker ähnlicher Meinungen anderer Accounts.
Als der Nahost-Konflikt nach dem Hamas-Massaker eskalierte, empfahl Musk seinen knapp 160 Millionen Followern zwei X-Profile, die in der Vergangenheit mit antisemitischen Sprüchen und Falschinformationen aufgefallen waren. Später löschte Musk das Posting kommentarlos.
Die Änderungen und Musks Rolle als Multiplikator verschieben die Gewichte bei X und liessen dort neue Meinungsmacher-«Eliten» entstehen, wie es zuletzt Forscher der University of Washington formulierten.
Nach dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel sei eine kleine Gruppe aus sieben Accounts für einen beträchtlichen Anteil der Inhalte verantwortlich gewesen, die rund um den Konflikt bei X wahrgenommen worden seien, stellten Forscher in einer Analyse fest. In den ersten drei Tagen nach der Attacke seien gut 1800 Beiträge dieser Gruppe 1,6 Milliarden Mal gesehen worden. Die Accounts der «New York Times», CNN, BBC und der Nachrichtenagentur Reuters, die viel mehr Follower haben, seien in der Zeit mit 298 Beiträgen aber nur auf 112 Millionen Ansichten gekommen.
Musk schwört auf «Bürger-Journalismus» und an X-Beiträge angeheftete «Community-Notes», mit denen Nutzer auf irreführende oder falsche Informationen hinweisen können. Nach dem Hamas-Angriff dauerte es zum Teil sehr lange, bis solche Notizen veröffentlicht wurden.
Die EU-Kommission hat nun Fragen dazu, wie X mit Hassrede und Falschinformationen umgeht. EU-Kommissar Thierry Breton verwies auf Berichte über manipulierte Bilder und Mitschnitte aus Videospielen, die für echte Aufnahmen ausgegeben worden seien. Das kann teuer werden: Für die Verletzung des europäischen Digitalgesetzes DSA drohen hohe Geldstrafen. Musk wies jüngst dennoch einen Bericht zurück, wonach er den Rückzug von X aus der EU erwog.
Laut der Analyseplattform Similarweb kamen vor drei Jahren noch drei bis vier Prozent der Besucherinnen und Besucher auf der Website der «New York Times» von Twitter. Dieser Wert sei zuletzt auf ein Prozent gefallen.
Musk habe schon vor Monaten die Sicherheitsvorkehrungen beseitigt, die Twitter als Nachrichtenquelle zumindest einigermaßen zuverlässig gemacht haben, wie der Publizist und Silicon-Valley-Kenner Casey Newton kritisierte.
Musk hatte in den vergangenen Monaten wiederholt klargemacht, wie wenig er von vielen seriösen Nachrichtenquellen hält. Reporter grosser US-Medienhäuser blockierte und bedrohte er, kommentierte und teilte Beiträge von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremisten.
Musk, der sich bei der Übernahme «absolute Redefreiheit» auf die Fahnen schrieb, will zugleich den häufigen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen, bei X gebe es mehr Hassrede. So zog X gegen kritische Online-Forscher der Organisation CCDH vor Gericht, die bei Tests zu dem Schluss kamen, dass solche Inhalte auf der Plattform blieben, wenn sie von Abokunden kämen.
Auch der jüdischen Organisation ADL drohte Musk mit einer Klage, weil sie von wachsendem Antisemitismus auf X sprach. Schnittstellen, über die Online-Forscher Hassrede und Falschinformationen nachgehen konnten, machte Musk dicht.
Nach wie vor braucht die Plattform Geld. Musk bestätigte mehrfach, dass die Werbeerlöse von X etwa halb so hoch seien wie einst bei Twitter. Er setzt auf Aboeinnahmen. So wurde eingeschränkt, wie viele Beiträge Gratis-User am Tag sehen können. In Neuseeland und auf den Philippinen können neue User testweise erst mit einer Gebühr von einem US-Dollar im Jahr Beiträge veröffentlichen sowie Posts anderer weiterverbreiten. Kostenlos können sie X nur passiv nutzen: Beiträge lesen, Videos ansehen, anderen Usern folgen.
Nicht nur Werbekunden, sondern auch einige Nutzerinnen und Nutzer kehrten X den Rücken. Der Dienst selbst veröffentlicht keine Angaben zu Nutzerzahlen mehr.
Die Analysefirma Apptopia geht aber davon aus, dass die tägliche Nutzerzahl seitdem von 140 Millionen auf 121 Millionen sank. Die Schätzung, von der das Branchenblog «Big Technology» berichtete, ist einer der wenigen Versuche, die Nutzerschaft zu überschlagen. Similarweb errechnete einen Rückgang des Datenverkehrs zur Webversion von X um rund 15 Prozent. Musks Profil habe im September aber fast doppelt so viele Besuche bekommen wie vor einem Jahr.
Zugleich hat sich in diesem Jahr keine vollwertige Alternative herausgebildet. Der Konkurrenzdienst Threads vom Facebook-Konzern Meta startete im Sommer zwar stark – die Aktivität der User liess aber schnell wieder nach. In Europa ist Threads allerdings nicht verfügbar.
Die App Bluesky, die sehr an das alte Twitter erinnert, knackte erst im September die Marke von einer Million Nutzerinnen und Nutzern. Die Social-Media-Plattform ist noch im Aufbau und die Registrierung nur per Einladung möglich.
Und kurz vor dem Jahrestag des Twitter-Kaufs gab einer der Herausforderer auf, der von früheren Twitter-Angestellten gegründet worden war: Pebble – ursprünglich bekannt unter dem Namen T2 – geht per 1. November vom Netz. Man sei zu langsam gewachsen, um Investoren zu überzeugen, stellte Mitgründer und Chef Gabor Scelle fest.
Dann ist da noch der unabhängige, weil dezentrale Social-Media-Dienst Mastodon, der seine eigenen Vorzüge hat, aber nicht als massentauglich bezeichnet werden kann.
(dsc/sda/awp/dpa)