Mehr als ein Jahr waren die Israelis hinter Jahja Sinwar her, dem Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober 2023. Am Ende brauchten sie die Hilfe von «Kommissar Zufall». Der Chef der Terrororganisation Hamas befand sich nämlich nicht wie vermutet in den Bunkern und Tunneln von Gaza, mit israelischen Geiseln als menschlichen «Schutzschilden».
Vielmehr war Sinwar mit zwei weiteren Personen in der Stadt Rafah unterwegs, als er einer Armeepatrouille über den Weg lief. Beim folgenden Gefecht kam er ums Leben. Erst danach erkannten die Soldaten die Ähnlichkeit der Leiche mit dem «Staatsfeind Nummer eins». Dank Unterlagen aus seiner langjährigen Haft in Israel konnte Jahja Sinwar identifiziert werden.
Es ist der jüngste und spektakulärste Erfolg Israels im israelischen Krieg gegen von Iran unterstützte Terrorgruppen. Er hat Zehntausende das Leben gekostet, oft unschuldige Zivilisten. Hunderttausende sind im Gazastreifen und im Libanon auf der Flucht, unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ist mit Sinwars Tod ein Ende des Leidens in Sicht?
Eine einfache Antwort gibt es wie so oft nicht. Die Angehörigen der rund 100 israelischen Geiseln in Gaza, von denen noch etwa die Hälfte bis zwei Drittel am Leben sein sollen, schöpfen jedenfalls neue Hoffnung. Für sie waren die letzten Wochen frustrierend, denn ihr Anliegen wurde durch den eskalierenden Krieg mit der Hisbollah im Libanon überschattet.
Nun fordern sie Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf, eine neue Initiative für eine Freilassung der Geiseln zu starten. «Du hast die Siegesbilder. Jetzt besorge einen Deal», forderte Einav Zangauker, deren Sohn Matan in Gaza festgehalten wird, gegenüber der BBC. Denn für Matan und die übrigen Geiseln in den Tunneln laufe «die Zeit davon».
Der umstrittene Regierungschef, den viele für Israels Versagen am 7. Oktober 2023 verantwortlich machen, liess sich nach Sinwars Tod mit zweideutigen Signalen vernehmen. Nach einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden hiess es, beide seien sich einig, dass es eine Möglichkeit gebe, «die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen voranzutreiben».
Yahya Sinwar is dead.
— Benjamin Netanyahu - בנימין נתניהו (@netanyahu) October 17, 2024
He was killed in Rafah by the brave soldiers of the Israel Defense Forces.
While this is not the end of the war in Gaza, it's the beginning of the end. pic.twitter.com/C6wAaLH1YW
In einer Videobotschaft tönte es weniger optimistisch. Jahja Sinwars Tötung sei nicht das Ende des Kriegs in Gaza, sondern «der Anfang vom Ende», sagte Netanjahu. Der Krieg könne morgen aufhören, wenn die Hamas bereit sei, die Waffen niederzulegen. Gleichzeitig warnte er die Israelis, dass «noch grosse Herausforderungen vor uns liegen».
Als Verehrer von Winston Churchill hätte Netanjahu auch den britischen Kriegspremier zitieren können. Nach dem Sieg über das deutsche Afrikakorps in der zweiten Schlacht im ägyptischen El Alamein hatte Churchill in einer Rede im November 1942 gesagt: «Das ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende des Anfangs.»
Damit wollte Churchill die Briten darauf einstellen, dass ein grosser Erfolg errungen wurde, der Zweite Weltkrieg aber längst nicht zu Ende sei. Er dauerte danach noch zweieinhalb Jahre. Die Situation in Gaza lässt sich damit nicht vergleichen, doch viele in Israel und ausserhalb unterstellen Netanjahu, den Krieg in die Länge ziehen zu wollen.
Wenn Netanjahu diese Gelegenheit nicht nutze, habe er sich entschieden, «die Geiseln im Stich zu lassen, um den Krieg zu verlängern und seine Herrschaft zu festigen», meinte die Geiselmutter Einav Zangauker. Der Verdacht kommt nicht von ungefähr. So will Benjamin Netanjahu eine Untersuchung des Hamas-Überfalls bis zum Kriegsende hinauszögern.
Er will damit seine Macht sichern, auch vor dem Hintergrund der gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren. Seine rechtsextremen Koalitionspartner aber drohen bei einer Vereinbarung mit der Hamas mit dem Austritt aus der Regierung. Ihnen geht es um ein weit grösseres Ziel: die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland.
Diese «Dystopie» eines Gross-Israel ist kaum im Interesse von Benjamin Netanjahu, denn damit würden alle bisherigen Friedensverträge mit arabischen Staaten hinfällig und neue, etwa mit Saudi-Arabien, unmöglich werden. Er verwies in seiner Videobotschaft selbst auf die Chancen, die sich nun eröffneten, nachdem Israel die meisten führenden Köpfe von Hamas und Hisbollah «eliminiert» hat.
Geschwächt wirkt auch ihre Schutzmacht Iran, nachdem ihr «Vergeltungsschlag» für die Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija und Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah nur geringe Schäden angerichtet hat. Daran ändern die starken Worte aus Teheran sowie vonseiten der Hisbollah, die eine Ausweitung der Raketenangriffe ankündigte, kaum etwas.
Vieles hängt davon ab, wie sich die Hamas nach dem Verlust ihrer Anführer neu gruppieren wird. Vorsichtig optimistisch zeigte sich Ibrahim Dalalsha, Direktor der Denkfabrik Horizon Center in Ramallah. Eine neue Führung könnte eher gewillt sein, die Macht an eine palästinensische Technokratenregierung zu übertragen, sagte er der «New York Times».
Sie könnte auch zu mehr Flexibilität bei den Geiselverhandlungen bereit sein und sogar eine zeitweilige israelische Präsenz in Gaza tolerieren, falls Israel einen permanenten Rückzug in Aussicht stelle, meinte Dalalsha: «Für ihr eigenes physisches Überleben könnten sie mehr Kompromisse eingehen als der Mann, der den ganzen Krieg ausgelöst hat.»
Die Konjunktive zeigen, dass dies eine vage Hoffnung ist. Ungelöst bleiben zudem der Krieg gegen die Hisbollah und der Konflikt mit Iran, bei dem nach wie vor ein israelischer Gegenangriff erwartet wird. Jahja Sinwars Tod könnte der Anfang vom Ende sein. Doch es deutet einiges darauf hin, dass er in Churchills Worten nur ein Ende des Anfangs ist.
Danach kann man den Zivilisten helfen und verhandeln.
Was man bisher gelernt hat ist, dass man die Hamas und auch Hisbollah militärisch bekämpfen kann.
Eine kleine Pause zu Verhandlungen kann man gewähren. Die Hamas muss jetzt ihren Dönitz finden und kapitulieren. Ansonsten bleibt der IDF nichts andetes übrig als weiter Druck zu machen.
Alles darunter ist für Israel strategisch nicht sinnvoll und wäre auch nicht fair.
Dass Netanyahu den Krieg absichtlich in die länge ziehe ist eine Unterstellung, die sich nicht belegen lässt, bzw. auf der Annahme beruht, dass Israël einfach mit den Terrororganisationen etwas aushandelt soll, zum Nachteil Israels. (Bei der Ukraine werden solche Forderungen hier jeweils zerrissen, das nur so am Rande.)