US-Präsident Donald Trump am Montag vor der St. John's Kirche in Washington.Bild: keystone
Analyse
02.06.2020, 21:4603.06.2020, 00:05
Oliver Marquart, Leonhard Landes / watson.de
Tag für Tag, Nacht für Nacht entlädt sich in den USA seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz am vergangenen Montag die Wut. Oft ist der Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt friedlich, teilweise kommt es aber auch zu Eskalationen.
Polizeibeamte in martialischer Montur gehen hart gegen Demonstranten vor. Sie verschiessen Tränengas und Gummigeschosse. Es kommt auch zu Brandstiftungen und Plünderungen.
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Die USA befinden sich im Aufruhr. Und bisher sieht es nicht danach aus, als ob ein Ende der Proteste in Sicht ist. Was ist los in den Vereinigten Staaten? Und was folgt aus der Wut auf der Strasse? Und welche Rolle spielt US-Präsident Donald Trump?
Das haben wir den Amerikanisten Florian Sedlmeier von der Freien Universität Berlin und die Historikerin Ursula Prutsch, spezialisiert auf die Geschichte der USA, von der Ludwig-Maximilians-Universität München gefragt.
Warum fallen die Proteste so heftig aus?
Sedlmeier glaubt nicht unbedingt, «dass sich die Proteste bislang bedeutend heftiger entladen als zu anderen Momenten in den letzten Jahren und Jahrzehnten». Womöglich nähmen wir das «in der Tagesaktualität und medialen Vervielfältigung» so wahr.
Er macht auf einen Umstand aufmerksam, der den aktuellen Fall von Polizeigewalt in Minneapolis, wo George Floyd starb, mit einem früheren Fall verbindet:
«George Floyd haucht in den letzten Minuten und Sekunden seines Lebens vor laufender Kamera ‹I can't breathe›. Dieser Satz ist ein wirkungsmächtiges Zitat. Eric Garner presst ihn mehrfach hervor, während er 2014 in New York City ebenfalls von Polizisten brutal erwürgt wird. Es zeigt zum einen auf traurige Weise, wie Floyd sich noch im Moment des Sterbens bewusst ist, dass er selbst zum Opfer seriell wiederkehrender Tötungsdelikte wird.
Zum anderen ist dieser Satz so tief im Gedächtnis der afroamerikanischen Community verankert, dass er ein Slogan ist, der die Menschen auf die Strassen bringt. Es ist, als hätte Floyd mit seinen letzten Worten zum erneuten Protest aufgefordert und verpflichtet.»
Ein Graffiti in Erinnerung an George Floyd im Berliner Mauerpark.Bild: keystone
Prutsch sieht viele Gründe, warum die Proteste eine derartige Wucht entwickelt haben:
«Beim Tod von George Floyd kam dies alles zusammen: der Rassismus, die grössere Sensibilität für Rassismus, die tiefe Wirtschaftskrise, die permanente Spannung in diesem Land, das Gefühl junger Menschen, um ihre Zukunft betrogen worden zu sein, der böswillige, aggressive Stil des Präsidenten und die Covid-19-Pandemie, die noch mehr Menschen in Armut fallen lässt, und durch die gebotene Isolation sozial verzweifeln lässt.»
Noch zur Jahrtausendwende sei eine solch breite Protestbewegung nicht vorstellbar gewesen. Seitdem sei die US-Gesellschaft aber pluralistischer geworden. «Weiss und schwarz sind keine solchen Gegensätze mehr. Das ist auch der Pop-Kultur geschuldet. Kaum ein Film, kaum eine Fernsehserie wäre ohne Afro-Amerikaner, Asiaten, Latinos denkbar, die gemeinsam kämpfen, Feinde besiegen, zusammenleben.»
Welche Rolle nimmt US-Präsident Trump bei den Protesten ein?
Prutsch ist überzeugt, dass Trumps Politik in nicht unerheblichem Mass dazu beigetragen hat, den Boden für die Eskalation auf der Strasse zu bereiten.
«Die Politik von Donald Trump, die vor allem eine kleine Gruppe privilegierter Amerikaner unterstützt, sein geringes Verständnis von Demokratie und Gewaltenteilung, sein autoritärer Stil und die Gewissheit, dass es den amerikanischen Traum vom Aufstieg für jeden Amerikaner und jede Amerikanerin nur für eine privilegierte Gruppe gibt, dass die Einkommen in den letzten 25 Jahren ständig zurückgegangen sind, dass gerade die junge Generation um Aufstieg und Erfolg betrogen wird, haben eine explosive Stimmung erzeugt.»
Besonders seine aggressive Rhetorik sowie die seines medialen Arms Fox News trage dazu bei. Trump sei ein rechter Populist. «Populisten glauben nicht an die Kraft des Parlaments, sie spalten die Gesellschaft in Gute (die eigenen Anhänger) und Böse, sie schüren ständig Spannungen und beflügeln Chaos», sagt die Historikerin. «Solche Persönlichkeiten sind auch oft narzisstisch und überschätzen sich selbst. Es ist bezeichnend, dass eine solche Persönlichkeit dann die eigene Armee in die Konfliktherde schicken will und Gewalt, statt zu deeskalieren, noch weiter schüren will.»
Auch in Barcelona erinnert dieses Streetart-Werk an George Floyd.Bild: keystone
Auch Sedlmeier glaubt nicht, dass Trump in der Lage ist, die Situation zu deeskalieren.
«Ist der Präsident willens und fähig, eine gewichtige, rhetorisch überzeugende Rede zu halten, in der er sich für historische und heutige Gewalt gegen schwarze Bürger und Bürgerinnen entschuldigt? Würde er im Zweifel gar seinen Rücktritt anbieten, um die Lage zu entschärfen? Er scheint eher gewillt, gewaltsam gegen die Bevölkerung vorzugehen. Solche Reaktionen befeuern das tief sitzende Misstrauen nicht-weisser Bevölkerungsteile in die Regierung und den Polizei- und Sicherheitsapparat.»
Trump drohte in einer Rede am Montagabend (Ortszeit) erneut mit dem Einsatz des Militärs bei den Protesten.
Dahinter stecke eine klare Absicht des US-Präsidenten, so Sedlmeier weiter. «Trump, der aus seiner eigenen medialen Schleife heraus agiert, bleibt weiterhin bei dem Kalkül, die Spannungen zwischen Weissen und Nicht-Weissen sowie zwischen politisch rechts und links über sein Auftreten via Twitter, im Fernsehen und bei Pressekonferenzen anzuheizen.» Die Situation sei nicht zuletzt deshalb unberechenbar.
«Es scheint alles möglich, bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.»
Was wird aus den Protesten folgen?
Sedlmeier weist zunächst darauf hin, dass bei der Verwendung des Begriffs «Eskalation» Vorsicht geboten sei.
«Die Frage ist, was genau hier eskaliert, was als Eskalation empfunden wird. Den Teil der Bevölkerung, dessen Vorfahren versklavt und gelyncht worden sind, der weiterhin weisser Selbstjustiz und Polizeibrutalität ausgesetzt ist, verantwortlich zu machen, wäre absurd.»
Sein weiterer Ausblick fällt eher pessimistisch aus.
«Ich nehme die physische Eskalation polizeilicher Gewalt und die rhetorische Eskalation eines Präsidenten wahr, der gewillt ist, gewaltsam gegen die Bevölkerung vorzugehen und dabei nun offenbar in seinem Bunker sitzt. Beide Eskalationen ergeben eine toxische Mischung, die leider keine Ausnahmesituation ist (das wäre schon schlimm genug), sondern systemischer Dauerzustand zu werden droht. Das könnte die traurige Lehre sein.»
«I can't breathe» wird bis nach Idlid in Syrien getragen.Bild: keystone
Wie lassen sich die zugrundeliegenden Probleme lösen?
Sedlmeier verweist darauf, dass selbst, wenn alle beteiligten Polizisten im Fall George Floyd zur Verantwortung gezogen würden, dies noch lange nicht grundlegenden Probleme löse.
«Es lassen sich zwei enorme Hürden ausmachen. Zum einen gibt es den strukturellen Rassismus, der in die staatlichen Institutionen, aber auch in weite Teile der Privatwirtschaft eingeschrieben ist. Zum anderen funktioniert Rassismus auch als psychosoziale Dynamik, die das Alltagsverhalten von Schwarzen und Weissen bestimmt.»
Das habe für das Zusammenleben erhebliche Konsequenzen:
«Afroamerikanische Männer, die unter diesen Vorzeichen die primären Opfer sind, überlegen sich zweimal, zu welcher Zeit sie joggen gehen und ob sie dabei eine Kapuze tragen. Ebenso trainieren sie ihre Körpersprache auf defensives Verhalten und De-Eskalation. Und dennoch bleiben sie permanent Zielscheiben. Solange diese Spielarten des Rassismus in ihrer Wirkungsmacht nicht von allen Beteiligten zumindest erkannt werden, besteht kaum Hoffnung auf Veränderung.»
Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Protesten für die US-Wahlen?
Prutsch sieht Trumps Wiederwahl durch die anhaltenden Proteste im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren durchaus gefährdet:
«Das Zusammenspiel der chaotischen und sozial ungerechten Pandemie-Bekämpfung mit dem Zynismus von Trump und der massiven Unruhen der letzten beiden Tage hat die Wiederwahl von Trump äusserst ungewiss gemacht. Viele arme Amerikaner würden Trump nicht mehr wählen und viele Republikaner, die nicht politisch weit rechts stehen, würden Trump ebenfalls nicht mehr wählen.»
Die Frage bleibt. Bild: keystone
Sedlmeier sieht die Demokraten vor einem schwierigen Spagat:
«Die demokratische Partei wird es nicht leicht haben, nach wie vor ökonomisch frustrierte weisse Wähler in den sogenannten Swing States zurückzugewinnen und gleichzeitig ihr Profil als 'Partei der Minderheiten' zu schärfen. Was Trump betrifft, ist sein Ziel (sofern er denn strategisch kalkuliert und nicht selbst rassenideologisch gesinnt ist) nach wie vor, seine Wählerbasis zu mobilisieren, und das macht er mit jedem zwieträchtigen Tweet.»
Amerikanist Sedlmeier warnt ausserdem davor, Trump schon für politisch tot zu erklären. «Er scheint mehrere Leben zu haben und Affären jeglicher Art überstehen zu können, indem er die mediale Aufmerksamkeit verlagert.»
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