Am Dienstag ist es 1000 Tage her, seit der russische Autokrat Wladimir Putin den Befehl zur Invasion der Ukraine gab. Nun beginnt der dritte Kriegswinter. Er droht in der Ukraine «besonders kalt und dunkel zu werden», so der österreichische «Standard». Denn russische Luftschläge haben die Energieversorgung hart getroffen, zuletzt am Wochenende.
Die Euphorie über die ukrainischen Rückeroberungen im ersten Kriegsjahr ist längst verflogen. Das geschundene Land kämpft mit Problemen beim Nachschub an Menschen und Material. Häufig wird die Schuld dafür pauschal dem Westen zugeschoben, doch die ukrainische Regierung hat zu lange mit der Rekrutierung neuer Soldaten gezögert.
Viele junge Männer versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Korrespondenten berichten von einer zunehmenden Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung. Dies und der Wahlsieg von Donald Trump in den USA könnte den Druck auf die Ukrainer erhöhen, einem «Frieden» mit Russland zuzustimmen, auch zum Preis von Gebietsverlusten.
Wahr ist aber auch, dass der Krieg für Russland bislang ein Fehlschlag war. Putin und seine Schergen glaubten in ihrer Verblendung, das Nachbarland in einem dreitägigen «Blitzkrieg» besiegen, sich einen beträchtlichen Teil des Territoriums im Osten und Süden einverleiben und in Kiew ein Marionettenregime installieren zu können.
Das ging schief. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist zu einem Symbol des Widerstands geworden, auch wenn sein Image gelitten hat. Seine Hoffnung, die Schweiz könne eine globale Allianz gegen Russland zusammentrommeln, war ein Fehlschlag. Die «Friedenskonferenz» auf dem Bürgenstock lieferte schöne Bilder, blieb inhaltlich aber dürftig.
Verloren ist die Ukraine nicht, aber sie ist in jeder Beziehung in die Defensive geraten:
Im August gelang es der ukrainischen Armee, mit dem Vorstoss in die russische Region Kursk Freund und Feind zu überraschen. Die Hoffnung, Russland werde einen Teil seiner Truppen aus dem Donbas abziehen, erfüllte sich jedoch nicht. Nordkoreas Diktator Kim Jong-un unterstützte seinen Verbündeten Putin vielmehr mit mehreren Tausend Soldaten.
Die Ukrainer sollen je nach Schätzung rund die Hälfte des eroberten Territoriums wieder verloren haben. Gleichzeitig hat das russische Militär in den letzten Wochen und Monaten den Druck an der Ukraine-Front erhöht. Im Visier sind Kupjansk in der Region Charkiw und Pokrowsk, eine strategisch bedeutende Stadt in der Region Donezk.
Mehrfach wurde in westlichen Medien ihr drohender Fall heraufbeschworen. Dabei habe sich die Front «in den letzten Wochen kaum bewegt», berichtet «CH Media»-Kriegsreporter Kurt Pelda, der sich gerade in Pokrowsk aufhielt. Die Ukrainer hätten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, und sie seien «motiviert, die Verteidigung fortzusetzen».
Seine Einschätzung wird von renommierten Militäranalysten bestätigt. «Die Lage ist noch nicht katastrophal, weil sich die Ukrainer zäh verteidigen, aber prekär», sagte Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) in London dem «Standard». Er sehe jedoch «keine unmittelbare Gefahr, dass die Front zusammenbricht».
Laut dem US-Analysten Michael Kofman, einem gebürtigen Ukrainer, hat Russland die strategische Initiative entlang der Frontlinie und «einen erheblichen materiellen Vorteil», wie er der «Kleinen Zeitung» sagte. Dieser habe sich jedoch «nicht als entscheidend» erwiesen und dem russischen Militär nicht ermöglicht, operative Durchbrüche zu erzielen.
Kofman bezweifelt, dass die russische Armee diese Intensität der offensiven Operationen bis 2025 aufrechterhalten kann. Jeden Tag soll Russland bis zu 2000 Soldaten verlieren, durch Tod, Verwundung, Gefangenschaft oder Desertion. Und ein grosser Teil der Ausrüstung besteht gemäss Kofman trotz Kriegswirtschaft aus Sowjetmaterial.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat am letzten Freitag mit Wladimir Putin telefoniert. Einen Durchbruch brachte das Gespräch nicht. Beobachter sehen darin ein Wahlkampfmanöver. Scholz wolle die SPD bei der Bundestagswahl im Februar als «Friedenspartei» positionieren, was schon bei der Europawahl im Juni nicht funktioniert hat.
Wolodymyr Selenskyj reagierte verärgert. In einem Radiointerview jedoch hat der ukrainische Staatschef ebenfalls am Freitag erklärt, man wolle «alles tun, damit dieser Krieg nächstes Jahr endet», und zwar «mit diplomatischen Mitteln». Es müsse aber ein «Frieden durch Stärke» sein, hatte Selenskyj schon in seinem «Siegesplan» betont.
Es war wohl ein Fingerzeig an Donald Trump, der im Wahlkampf erklärt hatte, den Krieg «in 24 Stunden» beenden zu wollen. Er hat bereits mit Selenskyj und Putin telefoniert. Wie der designierte US-Präsident dies hinbekommen will, ist unklar. Marco Rubio und Mike Waltz, die für die Aussenpolitik zuständig sein sollen, sind nicht als «Friedenstauben» bekannt.
Für den Friedensforscher Alexander Graef von der Universität Hamburg ist es nicht sicher, dass der neue US-Präsident Kiew tatsächlich fallen lässt, wie er dem «Standard» sagte: «Gelingt es ihm nicht, den Krieg schnell zu beenden, ist Trump auch eine 180-Grad-Wende zuzutrauen. Die USA könnten dann ihre bisherige Unterstützung ausbauen.»
Der abtretende Präsident Joe Biden will darauf nicht warten. Er ist nach langem Zögern bereit, den Ukrainern den Einsatz von ATACMS-Raketen auf russischem Gebiet zu erlauben, wenn auch vorerst nur in Kursk. Und die Deutschen wollen zwar weiterhin keine Taurus-Marschflugkörper liefern, dafür aber ähnlich konstruierte Kamikazedrohnen.
Trotz Spekulationen über Verhandlungen: Derzeit stehen die Zeichen auf Eskalation. Wladimir Putin will vor Donald Trumps Vereidigung am 20. Januar 2025 offenbar auf dem Schlachtfeld vollendete Tatsachen schaffen, trotz der enormen Verluste. Eine weitere Teilmobilmachung wie 2022 aber wolle er «eindeutig nicht», sagte Michael Kofman.
In den 1000 Tagen seit Kriegsbeginn haben rund 1,3 Millionen Menschen Russland verlassen, schätzt das britische Verteidigungsministerium. Der grösste Teil will sich dem Kriegsdienst entziehen. Putin muss deshalb neue Soldaten mit immer mehr Geld «ködern». Gleichzeitig wird dadurch der Arbeitskräftemangel in der russischen Wirtschaft verstärkt.
Nach bald drei Jahren Krieg wirkt die Lage verfahren. Keine Seite hat einen klaren Vorteil, doch die Ukraine befand sich zuletzt in der Defensive. Moskau glaube noch immer, «seine politischen Ziele militärisch erreichen zu können», meint Alexander Graef. Für die Ukraine könne es deshalb auch ein Sieg sein, «wenn sie als Staat handlungsfähig bleibt».