Bald vier Monate sind vergangen, seit Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen waren und das schlimmste Massaker an Juden seit dem Nazi-Holocaust verübt hatten. Mehr als 200 Geiseln wurden nach Gaza verschleppt. Kurz darauf begann der israelische «Rachefeldzug» mit dem Ziel, die Hamas ein für alle Mal zu vernichten.
Die vorläufige Bilanz fällt düster aus. Zwar wurden während einer Feuerpause im November 105 Geiseln gegen 240 inhaftierte Palästinenser ausgetauscht. Doch seither geht der Krieg vor allem im Süden des Gazastreifens mit unverminderter Härte weiter. Ein grosser Teil der Hamas-Kämpfer wurde getötet, doch auch die israelische Armee beklagt schwere Verluste.
Die Terror-Infrastruktur der Hamas wurde beschädigt, aber nicht vollständig zerstört. Noch immer fliegen Raketen Richtung Israel. Und während das Palästinenserhilfswerk UNRWA in Verruf geraten ist, wird die Lage der rund zwei Millionen Geflüchteten immer verzweifelter. Der Gazastreifen ist ein Trümmerfeld, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Damit nicht genug: Noch immer droht sich der Konflikt zu einem Flächenbrand auszuweiten. Im Norden liefern sich Israel und die libanesische Hisbollah Scharmützel. Die Huthi-Miliz im Jemen greift weiterhin Frachtschiffe an und beeinträchtigt den Welthandel. Und in Jordanien wurden drei US-Soldaten durch einen Angriff irakischer Milizen getötet.
US-Präsident Joe Biden hat Vergeltung angekündigt, doch es besteht die Gefahr eines ausgewachsenen Konflikts mit Iran. Denn Hamas, Hisbollah, Huthi und die Milizen im Irak werden von Teheran unterstützt. Das Mullah-Regime scheint nicht an einer Eskalation interessiert zu sein, doch es genügt ein Funke, um die Region in Brand zu setzen.
Selbst wenn es nicht dazu kommt, stellt sich die Frage, wie es nach einer Zerschlagung der Hamas mit dem jahrzehntealten Israel-Palästina-Konflikt weitergehen soll. Die USA, Europa und die arabischen Staaten propagieren eindringlich die Umsetzung einer Zweistaatenlösung, doch die Vorbehalte in Israel sind nach dem Hamas-Terror erheblich.
Die Zweistaatenlösung sei «moralisch, wirtschaftlich und politisch die überlegene Vision für die palästinensischen Gebiete», anerkennt etwa die NZZ. Nur so sei ein nachhaltiger Friede vorstellbar: «Doch ihre Verwirklichung wird auf lange Zeit ein schöner Traum bleiben.» Im besten Fall wäre eine Art Rückkehr zum Zustand vor dem 7. Oktober 2023 möglich.
Mit dieser tristen Perspektive aber wollen sich nicht alle abfinden. Im Hintergrund laufen Aktivitäten, die auf eine langfristig tragfähige Lösung abzielen, zeigen Recherchen des britischen «Economist». Das Risiko eines Scheiterns sei hoch, doch es bestehe die Chance «einer neuen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur» im Nahen Osten.
Man müsse sich das Problem als ineinander verschachtelte Kisten vorstellen, so der «Economist». Der Schlüssel zum Ende des Israel-Palästina-Konflikts ist demnach die Zweistaatenlösung. Der Schlüssel dazu sei eine Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien. Dafür brauche es ein Ende des Gaza-Kriegs, und der Schlüssel dazu sei ein Geisel-Abkommen.
Über Letzteres wird offenbar intensiv verhandelt. CIA-Direktor William Burns spricht vor einer Woche in Paris mit Vertretern Ägyptens, Katars und Israels. Der Plan sieht demnach eine Waffenruhe von bis zu zwei Monaten vor. Die Hamas würde den grössten Teil der rund 100 israelischen Geiseln freilassen, die vermutlich noch am Leben sind.
Sie würden erneut gegen palästinensische Häftlinge ausgetauscht. Die Vorbehalte in Israel sind ebenso gross wie der Druck, die Geiseln nach Hause zu holen. Jene Israelis, die im November freikamen, berichten von traumatischen Erfahrungen. Der umstrittene Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spielt dabei einmal mehr eine zwiespältige Rolle.
Am Mittwoch betonte er in einer Videobotschaft, er werde einem Geisel-Deal «nicht um jeden Preis» zustimmen. Man werde den Krieg nicht beenden und nicht «Tausende Terroristen» freilassen. Zuvor aber hatte Netanjahu bei einem Treffen mit Angehörigen bekräftigt, man unternehme alles, um die Geiseln freizubekommen.
Netanjahus Popularitätswerte sind im Keller. Ein grosser Teil der Israelis gibt ihm eine Mitverantwortung für den Terror des 7. Oktober. Bei Neuwahlen würde seine Koalition mit rechtsextremen Siedlern, die eine «freiwillige Auswanderung» (sprich Vertreibung) der Palästinenser propagieren, ihre Mehrheit verlieren. Folglich klammert er sich an die Macht.
Von einer Freilassung der Geiseln könnte Netanjahu kurzfristig profitieren, doch eine längere Waffenruhe würde auch seinen Rivalen «neue Möglichkeiten eröffnen», so der «Economist». Das gilt vor allem für Ex-Generalstabschef Benny Gantz, den derzeit populärsten Politiker in Israel. Er könnte das ohnehin wackelige «Kriegskabinett» mit Netanjahu verlassen.
Für Gantz hat die Freilassung der verbliebenen Geiseln absolute Priorität, ebenso für Gadi Eisenkot, einen anderen ehemaligen Armeechef, der ebenfalls dem Kriegskabinett angehört. Der Feind könne «anschliessend getötet werden». Eisenkots Wort hat Gewicht, denn er hat einen Sohn und einen Neffen im Gaza-Krieg verloren.
Mit einem «Shakeup» in der israelischen Politik und einem Waffenstillstand in Gaza könnte zudem Saudi-Arabien eingebunden werden, so das vom «Economist» skizzierte Konzept. Kronprinz Mohammed bin Salman, Autokrat und Modernisierer des Königreichs, stand im letzten Herbst offenbar kurz davor, mit Israel Frieden zu schliessen.
Es war ein mögliches Motiv für den Terrorangriff der Hamas. Die Türe scheint nicht gänzlich verschlossen zu sein. Beobachtern fällt auf, dass in Saudi-Arabien im Gegensatz zu anderen Ländern in der Region kaum Pro-Hamas-Kundgebungen toleriert werden. Eine «Normalisierung» mit Israel könnte auch den unheilvollen Einfluss Irans zurückdrängen.
Allerdings haben die Saudis betont, dass es ohne Zweistaatenlösung nicht dazu kommen wird. Sie ist der letzte und schwierigste Teil dieses «Puzzles». Nötig ist eine neue palästinensische Führung, ohne Hamas und ohne die korrupte Palästinenserbehörde. Und Israel wird seine Sicherheitsinteressen kompromisslos durchsetzen wollen.
Eine Schlüsselrolle in diesem Friedens-Szenario haben die USA. Seine Umsetzung gleicht einem Marathon, kombiniert mit der Besteigung eines 8000ers. Selbst der «Economist» räumt ein, dass dafür wohl drei Bedingungen erfüllt sein müssen: eine neue israelische Regierung, eine neue Palästinenserführung – und eine zweite Amtszeit von Joe Biden.