Am 4. Juni musste Benjamin Netanjahu zum Kreuzverhör bei der Staatsanwaltschaft antraben – der israelische Ministerpräsident ist wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt. Während die Staatsanwälte Netanjahu befragten, bearbeiteten seine Mitarbeiter die zunehmend ungeduldigen Anführer der streng religiösen Parteien, um deren Rückzug aus der Regierungskoalition noch zu verhindern. Sollten diese beiden Parteien die Koalition verlassen, verliert Netanjahus Regierung ihre Mehrheit im Parlament, der Knesset.
Noch ist der politische Überlebenskünstler Netanjahu nicht am Ende. Doch sollten die religiösen Parteien ihre Drohung wahr machen, wird es eng für den Premier, der so lange am Ruder ist wie kein israelischer Ministerpräsident vor ihm. Kann Netanjahu die Koalition noch kitten? Was geschieht, wenn sie zerbricht? Und worum geht es eigentlich?
Knackpunkt ist die Wehrpflicht für die Männer der ultraorthodoxen Gemeinschaft in Israel. Die Haredim («Gottesfürchtige»), wie sie auch genannt werden, haben sich einem strikt religiösen Lebensstil verschrieben. Die meisten von ihnen lehnen den Militärdienst mit der Begründung ab, er erschwere ihnen die Ausübung ihres Glaubens. Nur einige hundert Haredim leisten Dienst in speziellen Einheiten.
Bis März 2024 galt eine Ausnahme für diese Gruppe, dann lief das entsprechende Gesetz aus. Die Koalitionsregierung verschickte jedoch keine Einberufungsbefehle, sondern verlängerte stattdessen die Dienstzeit für Reservisten, von denen ohnehin viele schon seit Monaten nahezu pausenlos im Gazakrieg im Einsatz stehen. Zugleich arbeitete sie an einem Gesetzesentwurf, der die Ausnahmeregelung für Haredim weiterführen sollte. Es gelang ihr allerdings nicht, dieses Gesetz zu verabschieden.
Im Juni fällte der Oberste Gerichtshof einstimmig einen Grundsatzentscheid: Auch die Haredim müssen Wehrdienst leisten. Das Gericht begründete dies ausdrücklich mit der «Last der Ungleichheit», die inmitten eines zermürbenden Kriegs härter denn je sei. Zudem habe der Staat überhaupt nicht die Befugnis, eine umfassende Befreiung vom Militärdienst anzuordnen. In der Tat hatte die Armee bereits vor einem Mangel an kampffähigen Soldaten gewarnt; nach offiziellen Angaben fehlen derzeit etwa 12'000 Soldaten.
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs provozierte heftige Proteste unter den Haredim. Die Armee begann im Juli mit der Rekrutierung von Haredim, doch bis heute haben lediglich gut 1700 von ihnen den Wehrdienst angetreten – von rund 70'000, die eingezogen werden könnten. Allein bis Ende vergangenen Jahres ergingen dagegen bereits mehr als 1100 Haftbefehle gegen Haredim, die ihren Einberufungsbefehlen nicht nachgekommen waren.
Mitte Mai kündigte Netanjahu ein Wehrpflichtgesetz an, das innerhalb von zwei Jahren die Rekrutierung von 10'500 Haredim ermöglichen soll. Dies zum Missfallen seiner ultraorthodoxen Koalitionspartner, die Ausnahmen durchsetzen möchten, damit auch künftig ein Grossteil der Haredim nicht eingezogen würde. Doch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Knesset, Yuli Edelstein, ein Mitglied von Netanjahus Likud-Partei, widersetzt sich diesem Ansinnen. Immerhin befürworten drei von vier Likud-Wählern die Rekrutierung der Haredim.
Gespräche zwischen Edelstein und den Anführern der beiden ultraorthodoxen Parteien verliefen am Dienstagabend erfolglos, wie NZZ-Korrespondent Rewert Hoffer aus Tel Aviv berichtet – die Fronten zwischen den Koalitionspartnern sind verhärtet. Die ultraorthodoxen Parteien wollen den Rücktritt von Edelstein, der Netanjahus Zusagen an sie blockiert. Derweil will die Opposition am nächsten Mittwoch einen Gesetzesentwurf zur Auflösung des Parlaments in die Knesset einbringen. Sollte dieser angenommen werden, kommt es zu Neuwahlen.
Die Chancen dafür stehen gut: Zuerst kündigte die aschkenasisch geprägte Partei Vereinigtes Tora-Judentum (VTJ) an, das Auflösungsgesetz unterstützen zu wollen. Am Mittwoch gab auch die grössere, sephardisch geprägte Schas-Partei bekannt, sie werde diesen Schritt mittragen. Da Netanjahus Regierungskoalition derzeit über eine Mehrheit von 68 Mandaten in der 120 Sitze zählenden Knesset verfügt, hätte sie ohne die 7 Sitze der VTJ und die 11 Sitze der Schas keine Mehrheit mehr, um Neuwahlen zu verhindern.
Falls die beiden religiösen Parteien am nächsten Mittwoch tatsächlich den Gesetzesentwurf zur Auflösung der Knesset unterstützen, sind baldige Neuwahlen unausweichlich. Die aktuelle Koalition dürfte dies nicht überleben. Möglich ist freilich auch, dass die beiden Parteien aus der Koalition austreten, aber gegen die Auflösung der Knesset stimmen. Auch in diesem Fall wäre die derzeitige Koalition jedoch am Ende; Netanjahu könnte dann aber als Chef einer Minderheitsregierung vorderhand weiterregieren.
Der Politfuchs Netanjahu hat aber früher schon für Überraschungen gesorgt. Israelische Medien berichten etwa über Gerüchte, er könnte in letzter Minute ein teilweises Geiselabkommen mit der Hamas aus dem Ärmel zaubern. Möglich ist auch, so wird spekuliert, dass ein bedeutendes Ereignis, das die Sicherheit des Landes betrifft, eintritt. Beides würde alle Bemühungen zur Auflösung der Knesset vorerst zum Erliegen bringen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Netanjahu den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Edelstein opfert, um den ultraorthodoxen Parteien entgegenzukommen.
Möglich ist schliesslich auch, dass der Likud-Abgeordnete Ofir Katz, der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, die weitere Ausarbeitung des Gesetzes durch den Ausschuss verzögern kann. Wenn Netanjahu die Koalition bis zur Sommerpause der Knesset, die Ende Juli beginnt, zusammenhalten kann, würde das Parlament frühestens in der ersten Sitzungswoche im Oktober aufgelöst werden. Neuwahlen würden dann Anfang 2026 stattfinden. Der reguläre Wahltermin ist der 26. Oktober 2026 – es ist sehr fraglich, ob die Koalition bis dahin durchhält.
Sollte das Gesetz zur Auflösung der Knesset eine Mehrheit im Parlament finden, müssten bald Neuwahlen stattfinden. Dies ist weder für die beiden ultraorthodoxen Parteien noch für Netanjahu verlockend: Laut Meinungsumfragen dürfte Netanjahu dann keine rechts-religiöse Mehrheit mehr zusammenbringen.
Dies kontrastiert mit der Lage im Jahr 2012, als eine grosse Koalition unter Führung von Netanjahu zerbrach, vornehmlich wegen Uneinigkeit über den Haushalt, aber auch wegen des Streits über die Wehrpflicht für Haredim. Aus den folgenden Neuwahlen Anfang 2013 ging Netanjahus Parteienbündnis trotz Verlusten klar als stärkste Kraft hervor.
Im Judentum gibt es – anders als im Christentum – keine Konfessionen. Gleichwohl ist die jüdische Gemeinschaft keineswegs homogen, sondern in verschiedene Gruppierungen geteilt: Säkulare und liberale, konservative, orthodoxe und ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden unterscheiden sich stark in der Weise voneinander, wie strikt sie die zahlreichen Gebote der Religion auslegen und befolgen. Die ultraorthodoxen Haredim sind dabei besonders streng; sie legen beispielsweise grossen Wert auf die Trennung der Geschlechter und die Einhaltung der Sabbatruhe.
Dies ist auch der Grund, weshalb die Haredim keinen Militärdienst leisten wollen: In der israelischen Armee gibt es keine Trennung zwischen Männern und Frauen, und die Einhaltung des Sabbats – der Samstag ist ein heiliger Ruhetag für religiöse Juden – ist im Armeeeinsatz kaum möglich. Deshalb traf Premierminister David Ben-Gurion 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskrieges eine Vereinbarung mit Vertretern der Haredi-Gemeinschaft, die jene Haredim vom Militärdienst befreite, die an einer Jeschiwa, einer religiösen Hochschule, die Thora studierten.
Damals betraf die Regelung nur wenige Hundert Männer. Doch dank der hohen Geburtenrate der Haredim – sie machen heute etwa 14 Prozent der israelischen Bevölkerung aus – stieg die Zahl der Ausnahmen gewaltig an. So wurden im Jahr 2019 nur 69 Prozent der jüdischen Männer und 59 Prozent der jüdischen Frauen tatsächlich zum Militärdienst eingezogen. Ansonsten gilt die Militärdienstpflicht für alle jüdischen Israelis – für Männer drei Jahre, für Frauen zwei. Arabische Israelis müssen keinen Wehrdienst leisten, eine wachsende Anzahl von ihnen leistet aber freiwillig Dienst.
Die Befreiung der Haredim vom Militärdienst führt bei der nicht-ultraorthodoxen Bevölkerungsmehrheit zunehmend zu Unmut – der noch durch die Tatsache verstärkt wird, dass der Staat den Jeschiwas für jeden eingeschriebenen Studenten Fördergelder bezahlt. Diese Zuwendungen sind obendrein höher als jene für Soldaten. Hinzu kommt, dass die Haredim kraft ihrer demografischen Stärke zunehmend Einfluss auf die israelische Politik ausüben.
Besonders seit Beginn des Gazakriegs hat sich der Unmut weiter verschärft. Wegen des Mangels an kampffähigen Soldaten werden Reservisten immer öfter und länger eingezogen, während die Haredim als Gemeinschaft erscheinen, die milliardenschwere Zuwendungen vom Staat erhält, ohne etwas an die Verteidigung des Landes beizutragen.
Immerhin wird es für Netanjahu wie bei Arafat keinen Friedensnobelpreis geben. Denn das wäre so absurd, wie es bei Arafat war...