Bewegte Zeiten im Herbst 2019: Von Hongkong bis Ecuador gehen die Leute auf die Strasse und protestieren gegen ihre Regierungen. Oft geht es um soziale Fragen: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich in vielen Regionen der Welt immer mehr. Zugleich führen die sozialen Medien den Menschen immer mehr vor Augen, wie die Reichen leben – und bieten ihnen die Mittel, sich im Protest zu vernetzen.
Diese unvollständige Liste zeigt, wo es im Herbst 2019 rund um den Globus Massenproteste gab.
Die Massenproteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone, die im Sommer 2019 ausbrachen, richten sich gegen den wachsenden Einfluss Chinas in der früheren britischen Kronkolonie. Bei der Übergabe Hongkongs an China 1997 hatte Peking gemäss dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme» den Weiterbestand des demokratisch-marktwirtschaftlichen Systems für mindestens 50 Jahre garantiert.
Anlass für die grössten Demonstrationen in China seit der Demokratiebewegung 1989 war ein Gesetzesentwurf der Hongkonger Regierung, das die Auslieferung von Häftlingen an die Volksrepublik China ermöglicht hätte. Neben der Rücknahme des Gesetzes forderten die Demonstranten unter anderem den Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam und die Freilassung politischer Gefangener.
In Indonesien ist es Ende September zu den heftigsten Demonstrationen seit Jahrzehnten gekommen. Vornehmlich Studenten protestierten in Jakarta und anderen grossen Städten gegen die Verschärfung des Strafrechts. Die Regierung versucht damit, die Strafbestimmungen der Scharia – des islamischen Rechts – landesweit einzuführen. Bisher galt die Scharia nur in der Provinz Aceh auf Sumatra. Strafbar werden mit dem neuen Recht unter anderem ausserehelicher Sex, Aufklärung über Verhütungsmethoden und Abtreibung.
Hintergrund der Proteste ist der Umstand, dass im einst als tolerant geltenden muslimischen Vorzeigeland Indonesien zunehmend islamistische Kräfte an Einfluss gewinnen – auf Kosten der andersgläubigen Minderheiten wie Christen, Hindus und Buddhisten.
Rund 100'000 Demonstranten folgten Ende Oktober dem Aufruf des konservativen Klerikers Maulana Fazlur Rehman zu einem «Marsch auf Islamabad». In der pakistanischen Hauptstadt bauten sie ein Protestcamp auf und forderten den Rücktritt des Premierministers Imran Khan. Unterstützt wurde die Forderung von den wichtigsten Oppositionsparteien des südasiatischen Landes.
Khan, der erst 2018 gewählt worden ist, hat seit seinem Amtsantritt massiv an Popularität verloren. Vorwürfe, dass er eine Marionette der in Pakistan allmächtigen Armee sei und seine Wahl Fälschungen verdanke, verbinden sich mit dem Zorn über die verheerende Wirtschaftslage, die vor allen Dingen den Pakistanern mit niedrigem und mittlerem Einkommen schwer zu schaffen macht.
Eine Erhöhung der Spritpreise um mindestens 50 Prozent Mitte November hat im Iran massive Unruhen ausgelöst. Bei Zusammenstössen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kamen ein Polizist und ein Zivilist ums Leben; in den sozialen Medien kursieren bedeutend höhere Opferzahlen; Amnesty International spricht von 40 Opfern. Wie gross die Proteste derzeit sind, lässt sich nicht genau sagen, da die Regierung den Internetzugang im gesamten Land massiv eingeschränkt hat.
Iranian people throwing stones at police special units in Iran regarding to defend themselves against shooting by police.#اعتراض_سراسری #IranProtests pic.twitter.com/6j47BNSK39
— Monica (@__monica__) November 16, 2019
Das Mullah-Regime in Teheran ist besonders bei den städtischen Mittelschichten und den Jungen verhasst. Die expansive Aussenpolitik des Regimes – namentlich das militärische Engagement in Syrien – kostet Millionen, während Währungszerfall und Wirtschaftskrise durch Sanktionen des Westens verschärft werden.
Seit Anfang Oktober kommt es in mehreren mehrheitlich schiitischen Städten im Irak immer wieder zu Massenkundgebungen gegen die Regierung von Ministerpräsident Abdel Adel Mahdi. Die Sicherheitskräfte reagieren mit massiver Gewalt auf die Proteste und setzen Schusswaffen gegen die Demonstranten ein. Mehr als 330 Menschen, vor allem Demonstranten, wurden bisher dabei getötet.
Die Wut der Regierungskritiker richtet sich vornehmlich gegen die Eliten, die für die grassierende Korruption und die Misswirtschaft verantwortlich gemacht werden. Auf dem Anti-Korruptions-Index von Transparency International belegt der Irak Rang 168 von insgesamt 180 Ländern. Das Land gehört zu den grössten Erdölproduzenten, leidet aber dennoch unter Strommangel. Aber auch der Unmut über den Einfluss des Irans im Irak nimmt zu. Teheran stützt als schiitische Vormacht die Regierung in Bagdad. Gerüchte kursieren, wonach iranische Sicherheitskräfte gegen Demonstranten im Irak vorgegangen seien.
Seit mehreren Wochen gibt es im Libanon heftige Proteste gegen die Regierung, die auch nach dem Rücktritt von Regierungschef Saad Hariri im Oktober nicht abflauten. Am 19. November verhinderten mehrere hundert Demonstranten eine Sitzung des Parlaments, bei der eine Generalamnestie für tausende von Straftätern auf der Traktandenliste stand. Die Demonstranten befürchten, dass davon auch korrupte Politiker und Beamte profitieren.
Die Kundgebungen gehen weiter, weil sie sich gegen die politischen Eliten insgesamt richten, die für endemische Korruption, Misswirtschaft und chronische Probleme bei der Stromversorgung und der Müllabfuhr verantwortlich gemacht werden. Auch im Libanon, selbst unter der schiitischen Bevölkerung, wächst zudem der Unmut über die iranische Einmischung – die mächtige Schiitenmiliz und -Partei Hisbollah ist der verlängerte Arm Teherans im Libanon.
Ende Oktober kam es in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und Teilen der Region Oromio zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, aus denen sich gewalttätige Zusammenstösse zwischen verschiedenen Volksgruppen entwickelten. 78 Menschen kamen ums Leben, hunderte wurden verhaftet. Ausgerechnet Demonstranten aus der Volksgruppe der Oromo protestierten gegen Regierungschef Ahmed Abiy, der ebenfalls Oromo ist.
Möglicherweise hatten die Oromo von Abiy erwartet, dass er sich stärker für ihre Belange einsetzen würde. Abiy ist der diesjährige Friedensnobelpreis-Träger. Er erhielt die Auszeichnung für die Beendigung des Konflikts mit Eritrea und die Demokratisierung Äthiopiens. Die Wirtschaft des ostafrikanischen Staates ist zwar in letzter Zeit stark gewachsen, aber nach wie vor zählt Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Welt.
Seit Ende Februar findet in der algerischen Hauptstadt jeden Freitag eine Demonstration gegen das Regime in Algerien statt. Am 1. November war die Masse der Teilnehmer besonders gross – es war der 65. Jahrestag seit dem Beginn des bewaffneten Kampfs gegen die französische Kolonialmacht im Jahr 1954. Die Demonstranten nahmen darauf Bezug, indem sie skandierten: «Das Volk will seine Unabhängigkeit.»
Die Protestbewegung kämpft unter dem Begriff «Hirak» friedlich gegen das korrupte Regime der Nationalen Befreiungsfront, die ihrerseits als Befreiungsbewegung gegen die Franzosen entstand. Die Demonstranten lehnen die für den 12. Dezember vorgesehenen Präsidentschaftswahlen ab, in denen ein Nachfolger für den zurückgetretenen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika gekürt werden soll, und verlangen einen Systemwechsel.
Am ersten Jahrestag der «Gelbwesten»-Proteste in Frankreich kam es in Paris zu heftigen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Protestbewegung, die am 17. November 2018 mit einer Massendemonstration von mehr als 280'000 Personen begonnen hatte, konnte jedoch nur noch knapp 30'000 Teilnehmer mobilisieren – und das im ganzen Land. Bereits im Laufe des Jahres hatte die Bewegung zusehends an Zugkraft verloren.
Die «Gelbwesten» entstanden als Protest gegen eine Erhöhung der Benzinabgabe, die Präsident Emmanuel Macron durchsetzen wollte. Es gelang der Bewegung, diese Massnahme zu verhindern. Dennoch demonstrierten die «Gelbwesten», die weder eine Führung noch ein einheitliches politisches Programm haben, weiter – nun mit weitergehenden Forderungen, etwa nach mehr Kaufkraft oder mehr direkter Demokratie. Aufgrund von gewalttätigen Zusammenstössen mit der Staatsgewalt nahm die Popularität der «Gelbwesten» ab Frühjahr 2019 stark ab.
In Katalonien demonstrierten Ende Oktober sowohl die Befürworter wie auch die Gegner einer Abspaltung der Region von Spanien. Die Unabhängigkeitsbewegung hatte allerdings bereits mehrmals Grosskundgebungen durchgeführt, seit Mitte des Monats mehrere Separatistenführer zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Diese Proteste verliefen zum Teil gewalttätig.
Katalonien ist die wirtschaftsstärkste Autonome Gemeinschaft Spaniens, wobei die Unruhen bereits zu massiven wirtschaftlichen Einbussen geführt haben. Im Herbst 2017 führte die Regionalregierung ein von der spanischen Zentralregierung nicht anerkanntes Unabhängigkeitsreferendum durch, worauf Madrid die Regionalregierung entmachtete. Danach beruhigte sich die Lage auf der Strasse ein wenig, doch die Zentralregierung nutzte dies nicht für Verhandlungen. Mit dem harten Gerichtsurteil gegen die Separatistenführer ist der Konflikt wieder aufgeflammt.
Das rohstoffreiche, aber arme Land in Westafrika wird von Präsident Alpha Condé regiert, dessen Mandat im Dezember 2020 endet. Der greise Machthaber, der 2010 bei den ersten wirklich demokratischen Wahlen in Guinea an die Macht kam, fordert jedoch ein Referendum, das ihm über eine Verfassungsänderung eine dritte Amtszeit ermöglichen soll. Dagegen protestierten seit Mitte Oktober zehntausende Guineer in Massendemonstrationen, die in blutige Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften umschlugen. Mindestens 15 Demonstranten und ein Polizist wurden dabei getötet.
Bereits seit Jahren gab es in Venezuela immer wieder massive Proteste gegen das Regime von Präsident Nicolás Maduro. 2018 wurde der Nachfolger von Hugo Chávez in umstrittenen Wahlen im Amt bestätigt; die aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition waren von der Wahl ausgeschlossen worden. Als im Januar 2019 Maduros zweite Amtszeit begann, kam es zu einer Protestwelle, die während des ganzen Jahres anhielt, wenn auch mit allmählich abnehmender Intensität.
Die Regierung setzt zur Bekämpfung der Kundgebungen nicht nur die Sicherheitskräfte ein, die mit brachialer Gewalt gegen die Protestierenden vorgehen. Auch paramilitärische Banden machen Jagd auf die Demonstranten; mehr als 100 Menschen kamen bisher ums Leben. Es gibt Hinweise auf aussergerichtliche Exekutionen von Regimegegnern.
Seit Anfang Oktober sind hunderttausende von Chilenen auf die Strasse gegangen, um gegen die Regierung von Präsident Sebastián Piñera zu protestieren. Militär und Polizei reagieren mit Gewalt auf die Proteste, es gibt Berichte von Schusswaffengebrauch gegen friedliche Demonstranten. Mindestens 20 Menschen sind bisher ums Leben gekommen.
Die Proteste entzündeten sich zunächst an einer Erhöhung der Metro-Preise, doch bald forderten viele Demonstranten die Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell, das in Chile bereits unter der Pinochet-Diktatur eingeführt worden war und zu extremen Unterschieden zwischen Armen und Reichen führte.
14 Jahre regierte Evo Morales Bolivien, dann musste er dem Druck der Strasse weichen und zurücktreten. Der linke Politiker, das erste indigene Staatsoberhaupt des Andenstaats, hatte lange die Unterstützung der indigenen Landbevölkerung genossen und galt auch bei den städtischen Mittelschichten als Hoffnungsträger, der mit Korruption und Vetternwirtschaft aufräumen würde. Mit der Zeit regierte Morales aber zunehmend autokratisch und stellte sich schliesslich erneut zur Wahl, obwohl die Verfassung eine vierte Amtszeit verbietet und er ein entsprechendes Referendum verloren hatte.
Bei der Wahl am 20. Oktober gab es deutliche Hinweise auf Wahlbetrug. Schon am gleichen Abend kam es zu ersten Demonstrationen, die sich zu Protesten im ganzen Land ausweiteten. Da auch Morales' Anhänger auf die Strasse gingen, kam es zu gewalttätigen Zusammenstössen, bei denen mehrere Personen ums Leben kamen. Selbst Teile der indigenen Bevölkerung, die lange hinter Morales stand, demonstrierten gegen den Präsidenten. Am 10. November trat er zurück und ging nach Mexiko ins Exil.
Seit Mitte September legen Massendemonstrationen regelmässig das öffentliche Leben in Port-au-Prince und anderen Städten Haitis lahm. Bei den Unruhen haben bereits mindestens 42 Menschen den Tod gefunden. Treibstoffknappheit, Inflation, Korruption und generell die verheerenden Lebensumstände in dem mausarmen Karibikstaat treiben die Menschen auf die Strasse. Die Protestbewegung umfasst nicht nur die Anhänger der parlamentarischen Opposition, sondern auch die katholische Kirche und weitere religiöse Gruppierungen sowie Studenten.
Sie fordern vor allem den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse. Er soll Geld aus dem venezolanischen Petrocaribe-Programm veruntreut haben. Venezuela lieferte Haiti stark verbilligtes Öl, das die Regierung dann teurer weiterverkaufen konnte. Da Venezuela diese Lieferungen nun aufgrund der Krise im eigenen Land eingestellt hat, ist der Preis für Treibstoff stark gestiegen.
In der ersten Oktoberhälfte protestierten zehntausende Ecuadorianer in der Hauptstadt Quito gegen den Präsidenten Lenín Moreno. Moreno, der deutlich weiter rechts politisiert als sein Vorgänger Correa, hatte Subventionen auf Diesel und Benzin gestrichen, um einen Milliardenkredit des IWF zu erhalten. Diese Massnahme traf die städtische Unterschicht und die Bauern mit grösserer Härte, da vornehmlich der Diesel von den Subventionskürzungen betroffen war und die Busse im öffentlichen Verkehr und auch die Traktoren der Bauern mit Diesel betrieben werden.
Die Proteste in Quito zwangen Moreno zeitweilig dazu, nach Guayaquil auszuweichen. Die Regierung reagierte zuerst mit harter Gewalt, fand sich danach aber unter Vermittlung der Uno und der katholischen Kirche zu Verhandlungen bereit. Nachdem Moreno die Subventionskürzungen zurückgenommen hatte, beruhigte sich die Lage wieder.