Wie eine Wasserleiche normalerweise aussieht? Hässlich. Zwar verwest eine im Wasser liegende Leiche gut achtmal langsamer als eine unter der Erde liegende, aber sie ist dennoch aufgequollen, aufgeweicht, von irgendwelchen Tieren angeknabbert.
Die Wasserleiche in der Fiktion ist dagegen eine erhabene Leiche. Sie befindet sich in einem schwerelosen Schwebezustand, sie ist gereinigt, in einem christlichen Kontext natürlich auch getauft. Sie macht quasi einen evolutionären Rückwärtssalto: Die Schuld (also Sex oder auch nur Gedanken an Sex), die sie auf sich geladen hat, wird von ihr abgewaschen, sie bewegt sich zurück in einen unschuldigen, vorkindlichen Zustand.
Sie geht quasi ins Fruchtwasser der Mutter Natur zurück und wirkt dabei erstaunlich unversehrt. Kein Blut, keine Würgemale, keine Wunden sind zu sehen. Die klassische Wasserleiche in der Literatur, im Film und in der Kunst ist weiblich. Und sehr, sehr schön.
Die Mutter aller Wasserleichen wurde von Shakespeare erfunden. Um 1602 schrieb er «Hamlet», das Stück über den irren Dänenprinzen, der sich mit der ungefähr 14-jährigen adeligen Ophelia in einer stressigen On-Off-Affäre befindet. Sie weist ihn zurück, er weist sie zurück, sie soll ihn ausspionieren, er wird wahnsinnig, sie wird wahnsinnig. Sie geht – mit vielen Blumen und Küchenkräutern dekoriert – ins Wasser. Ein Motiv, was nicht nur dem Theaterpublikum, sondern auch vielen meldoramatischen Malern hervorragend gefällt.
Ganze fünf Monate lang pinselt der Brite Sir John Everett Millais im Sommer 1851 Blümchen und Blättchen in der freien Natur und trotzt dabei gefrässigen Stechmücken. Dann holt er sich die befreundete Künstlerin Elizabeth Eleanor Siddal als Modell ins Atelier. Sie legt sich in eine Badewanne. Inzwischen ist es allerdings Winter. Siddal wird im kalten Wasser fürchterlich krank, überlebt aber zum Glück.
Millais' «Ophelia» wird zu einem Vorzeigewerk der englischen Präraffaeliten, die ihrerseits den kontinentalen Jugendstil massgebend beeiflussen.
Kurz vor 1890 wird in Paris eine junge Tote aus der Seine gezogen. Ein Mitarbeiter der Leichenschauhalle ist so betört von ihrem rätselhaften Lächeln, dass er sofort einen Gipsabdruck ihres Gesichts macht und eine Totenmaske anfertigt. Die Maske wird reproduziert und zum Dekorationshit bei der morbide gesinnten Bohème der Jahrhundertwende. Alle hängen sich die Maske an die Wand. Und «L'inconnue de la Seine» wird mit der Mona Lisa verglichen.
Jahrzehntelang geistert sie durch zahllose Romane, Dramen und Gedichte. Rainer Maria Rilke, Vladimir Nabokov, Ödön von Horváth, Johannes Mario Simmel und Max Frisch verewigen sie.
Sie steht hier stellvertretend für all die toten Mädchen, die in der Literatur von damals aus der Donau, der Themse oder der Seine gezogen werden. Mädchen, deren Unschuld im lüsternen Dickicht der Grossstädte verloren geht, und die keinen andern Ausweg mehr sehen, als sich zu ertränken.
Sie ist schön und schwedisch. Blond und bodenständig. Die Schauspielerin Kristina Söderbaum heiratet Hitlers perfide Propaganda-Schleuder, den Filmregisseur Veit Harlan. Sie darf im Dritten Reich nur in den Filmen ihres Mannes auftreten. Und der lässt sie mit Vorliebe ertrinken.
Denn Hitler liebt es, wenn die tugendhafte deutsche Frau entweder tugendhaft bleibt und sich der Versuchung unter Einsatz ihres Lebens verweigert, oder wenn sie sich nach erfolgter Versuchung durch den «Feind» (besonders krass durchexerziert wird dies in Harlans Hetzfilm «Jud Süss») das Leben nimmt.
Dreimal macht Harlan seine Frau zu einer wunderschön Ertrinkenden, sie erhält den populären Übernamen «die Reichswasserleiche». «Unsere Reichswasserleiche schwimmt in ihrem Element!», soll ein ein Berliner Klempner gerufen haben, als er 1944 einen Wasserrohrbruch bei Söderbaum reparieren musste.
Der spätere Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez macht sich 1968 in einer Erzählung über den Trend zur schönen weiblichen Wasserleiche lustig: In «Der schönste Ertrunkene der Welt» spült das Schicksal einen Toten an irgendeinen Strand. Die Männer überlassen den Frauen die Reinigung der Leiche. Und als der Tote endlich blank geputzt vor den Frauen liegt, müssen sie sich eingestehen, dass sie noch nie ein so appetitliches Stück Mann gesehen haben.
Und: Er ist nicht nur schön, sondern auch gross. Also alles an seinem Körper ist sehr, sehr gross. Restlos alles. Die Frauen seufzen, denn ihre eigenen Männer können ihnen dies nicht bieten. Sie sind weder stark noch gut bestückt.
Zunächst wollen die Männer den Toten einfach so wieder im Meer versenken, doch nach näherer Betrachtung sind sie fast genau so fertig vor Bewunderung wie ihre Frauen. Denn was da liegt, ist, als wäre ein Hollywoodstar den Fluten entglitten. Plötzlich realisieren sie, wie klein ihr Leben ist. Sie bereiten dem Fremden ein riesiges Begräbnis. Danach leben sie so, wie er es ihnen vorgemacht hat: bigger than life.
Womit beginnt die legendärste TV-Serie der Welt? Mit einer Tasse Kaffee, der Log Lady oder einem kleinen, tanzenden Mann? Nein, natürlich mit der schönen Leiche von Laura Palmer, die in der Nähe des Städtchens Twin Peaks an einen Strand gespült wird.
Dank ihr kommt der kaffeesüchtige Special Agent Dale Cooper überhaupt nach Twin Peaks, dank ihr entwickelt sich David Lynchs überragendes Surrealitätenkabinett. Und natürlich steckt hinter der schönen Laura-Leiche auch ein entsprechend schlimmes Leben.
Jahrelang ist Nick Cave von der kleinen Australierin Kylie Minogue «besessen», wie er selbst zugibt. Er will ein Duett mit ihr singen. Endlich hat er eine Idee! Zuerst hat er Sex mit Kylie, dann haut er ihr einen Stein auf den Hinterkopf, denn: «All beauty must die!», wirft ihre Leiche in den Fluss und steckt ihr eine Rose zwischen die Zähne. Charming!
Kylie findet die Idee jedoch auch total super, und gemeinsam kreieren die beiden mit «Where the Wild Roses Grow» nicht nur eine sich düster einschmeichelnde Mörderballade, sondern auch die schönste Wasserleiche der Popgeschichte.
Oh Leo! Er spielt die erste ikonische männliche Wasserleiche der Film- und Kunstgeschichte. Und wie schön er ist, als ihn Kate Winslet alias Rose mit den verstörend unangebrachten Worten «I'll never let you go!» von der Planke in die eisige Tiefe stösst! Sein Jack Dawson ist da quasi tiefgekühlt, seine Lippen wirken grösser und geschminkt, seine Augenlider unendlich zart, Eiskristalle bilden sich in seinem Haar. Kurz: Jack, der noch kein richtiger Mann ist, verwandelt sich im Sterben in ein Mädchen.
Der Philosoph Slavoj Žižek hat diese seltsame letzte Szene zwischen Jack und Rose sehr treffend analysiert: Ein verwöhntes, reiches Mädchen hat eine Finanz- und Lebenskrise. Jack repariert mit der ganzen unverstellten Lebensfreude und Vitalität von einem, der eh nichts zu verlieren hat, ihr Ego. Danach braucht sie ihn nicht mehr. «Es ist wie bei E.T.: E.T. geht heim, Jack geht unter», sagt Žižek.
Vögel fallen vom Himmel. Ein Pferd verendet. Planeten treiben aufeinander zu. Nachts leuchten drei Monde. Eine prächtige Sonnenuhr zeigt auf Endzeit. Dazu erklingt Wagners Oper «Tristan und Isolde» – das ist sowas wie «Romeo und Julia» mit Erwachsenen, am Ende sind auch alle tot. Kirsten Dunst hat schwere Depressionen. Wahrscheinlich, weil sie kurz vor ihrer Hochzeit steht. Sie sieht sich im Brautkleid auf dem Wasser treiben wie die Ophelia von Millais.
Lars von Trier mixt in den verrückt schönen ersten acht Minuten seines Weltuntergangsfilm «Melancholia» vieles, was gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Höhe der morbiden Ästhetik war. Also Liebestode aus Oper und Malerei und viel, viel Schicksalshaftigkeit – schliesslich stand damals eine Jahrhundertwende bevor, und da spinnen die Leute ja immer.
Für das Personal in «Melancholia» gilt: Schöner wohnen, schöner sterben. Das Zitat von Ophelias wahnsinnigem Wassertod mit Brautkleid, Maiglöckchen und Seerosen ist da ein echtes Sahnehäubchen.
Mit Daniel Radcliffe, der sich als Wasserleiche durch einen ganzen Film furzt, erhält der Wasserleichendiskurs endlich seinen längst nötigen Realismus! Danke, Daniel! Und spätestens jetzt steht der Wasserleichenkult auch Männern offen, die nicht wie Mädchen aussehen. Was für eine überraschende Wende.
Radcliffe spielt einen von allerlei Zersetzungs-Erscheinungen befallenen Toten, der von einem suizidgefährdeten Freak gefunden und als «Freund» benutzt wird. Das Ganze ist eine makabre Satire auf alle Bromance-Filme und spielt in einer seltsamen Märchenwelt, die auf polymorph perversen Gesetzen beruht.
Da ist nichts mehr schön, erhaben oder überhöht. Und wer weiss, vielleicht hat unser aller Harry Potter den Wasserleichen ihren anämischen Zauber jetzt für immer ausgetrieben.