Die Österreicher haben einen Hang zu blumiger Sprache. Tomaten heissen Paradeiser, eine neue Regierung wird nicht vereidigt, sondern angelobt. Und die Abordnung einer Partei im Nationalrat wird nicht von einem Fraktionsvorsitzenden geleitet, sondern einem Klubobmann – oder einer Klubobfrau. Nur der Regierungschef ist ein kommuner Bundeskanzler.
Am Montag hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen einen Neuen angelobt. Der bisherige Aussenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) folgt auf Sebastian Kurz, der am Samstagabend seinen Rücktritt eingereicht hatte. Die Kalauer blieben nicht aus. Besonders beliebt war «Kurz-Schluss». Aber auch «Kurz mal weg» trendete in den sozialen Medien.
Die Doppeldeutigkeit ist in diesem Fall besonders offenkundig. Viele in Österreich sind überzeugt, dass Kurz weg ist – aber eben nur kurz. Tatsächlich wechselt der Ex-Kanzler als Klubobmann der ÖVP ins Parlament. Er bleibt auch Parteichef und damit eine mächtige Figur in der österreichischen Politik. Der Begriff «Schattenkanzler» drängt sich auf.
Noch am Freitagabend wollte Sebastian Kurz von einem Rücktritt aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe nichts wissen. Erst als der grüne Vizekanzler Werner Kogler indirekt drohte, die Koalition mit der ÖVP aufzukündigen und einen Misstrauensantrag der Opposition im Parlament zu unterstützen, warf der Bundeskanzler das Handtuch.
Bereits zum zweiten Mal endete eine Amtszeit von Kurz nach kurzer Zeit. Ab 2017 regierte er als Kanzler mit der rechtspopulistischen FPÖ, doch nach der Ibiza-Affäre liess er die Koalition platzen. Sein Kalkül ging auf: Bei den Neuwahlen 2019 konnte seine ÖVP viele Stimmen enttäuschter FPÖ-Wähler abholen. Danach koalierte er mit den Grünen.
Man vergisst dabei leicht, dass Sebastian Kurz erst 35-jährig ist und damit in einem Alter, in dem viele politische Karrieren beginnen. Doch der junge Altkanzler zeigte schon früh einen enormen Ehrgeiz. Der Begriff Machthunger taucht in diesem Zusammenhang häufig auf. Schon 2009 wollte er «unbedingt Chef der Jungen ÖVP werden», heisst es in einer Biografie.
Mit 27 Jahren war der Studienabbrecher aus Wien-Meidling Aussenminister und mit 31 Jahren der jüngste Regierungschef der Welt. Zuvor hatte er als Parteiobmann die biedere ÖVP umgekrempelt. Die Farbe wechselte von christlich-schwarz zu feschem Türkis, in den auf Kurz zugeschnittenen Wahlkampf 2017 zog sie mit dem Motto «die neue Volkspartei».
Der steile Aufstieg war auch möglich, weil Sebastian Kurz lange kaum Fehler machte. Das brachte ihm den Ruf eines Wunderkinds (oder gut österreichisch «Wunderwuzzi») ein. Auf der Strecke blieben seine Überzeugungen. Nicht Visionen oder die Notwendigkeit von Reformen trieben seine Karriere an, sondern ein rücksichtsloser Wille zur Macht.
«Kurz ist ein Vermesser der Macht, Machterhalt ist ihm extrem wichtig», sagte der frühere grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober dem Nachrichtenmagazin «Profil». Er habe einen guten Instinkt, was politische Stimmungen betreffe, allerdings sei er «sicher nicht in die Politik gegangen, weil er grosse Ansprüche hat, Missstände zu verändern».
Noch als Chef der Jungen ÖVP Wien habe Kurz den Kontakt zu Muslimen gesucht und sich für gemeinsame Projekte interessiert, schreibt das Magazin «News». Heute markiert er den Islamkritiker und Befürworter einer harten Flüchtlingspolitik. Wer seinem Aufstieg an die Spitze im Weg stand, wurde wenn nötig mit grenzwertigen Methoden weggemobbt.
Im vergangenen Heft setzte sich News kritisch mit der Rolle der türkisen Führung innerhalb der ÖVP auseinander. Das gefiel nicht allen. Man teilte uns mit, dass das Finanzministerium in News und in allen anderen Titeln der VGN Medien Holding nichts mehr schalten würde. pic.twitter.com/E6HRKdg3fb
— NEWS (@NEWS) June 17, 2021
Das bekam vor allem Reinhold Mitterlehner zu spüren, Kurz’ Vorgänger als ÖVP-Obmann. Die nun publik gewordenen Chats zeigen, wie unzimperlich der «Wunderwuzzi» und sein innerer Kreis vorgingen: Sie «kauften» in den österreichischen Boulevardmedien Umfragen und Berichte, in denen Kurz gut und Mitterlehner schlecht aussah.
Die «Inseratekorruption» ist eine bekannte Unsitte, ihr haben sich auch andere Parteien und Politiker bedient. Im Fall von Kurz scheint sie eine neue Dimension erreicht zu haben. Als «News» im Sommer eine kritische Titelstory über die türkise ÖVP-Führung publizierte, hiess es aus dem Finanzministerium, man werde im Magazin keine Inserate mehr schalten.
Als starker Mann des Ministeriums galt lange jener Thomas Schmid, dessen rund 300’000 Chatnachrichten die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen die Kanzler-Clique ausgelöst haben. «Wenn die Vorwürfe stimmen, ist Ibiza im Vergleich dazu eine kleine Insel im Mittelmeer», sagte der Politologe Peter Filzmaier im ORF.
Damit spielte der «österreichische Claude Longchamp» auf die Ibiza-Affäre an, die den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache Amt und Ansehen kostete. Doch während Strache im berüchtigten, auf Ibiza gedrehten Video vor allem schwadronierte, sind die Vorwürfe gegen Kurz wegen Bestechlichkeit und Untreue konkret und gravierend.
Nun fragt sich Österreich, ob er den neuesten Skandal überstehen und an die Macht zurückkehren wird. Den Inhalt der Chatnachrichten bestreitet Kurz nicht. Ausserdem liess er prophylaktisch verlauten, er werde auf seine Immunität als Parlamentarier verzichten und nicht an den Kabinettssitzungen teilnehmen, wozu er als Klubobmann berechtigt wäre.
Einige Beobachter glauben, dass ihm kein dritter Einzug ins Bundeskanzleramt gelingen wird, unabhängig von einer möglichen Verurteilung. Er habe es sich mit allen potenziellen Koalitionspartnern verdorben. Die meisten Stimmen aber gehen davon aus, dass ihm der neue Kanzler Schallenberg als «Marionette» dienen und er weiter die Fäden ziehen werde.
«Sebastian Kurz ist gestern zu seiner Lieblingssendezeit nicht zurückgetreten», giftelte das Wiener Magazin «Falter», das viele der Chats veröffentlicht hat, am Sonntag spitz. Hans Peter Doskozil, der burgenländische SPÖ-Landeshauptmann, fühlte sich an die «Rochade» im Moskauer Kreml zwischen Wladimir Putin und Dmitri Medwedew erinnert.
Für «Profil»-Chefredaktor Christian Rainer ist klar: Sebastian Kurz «will wieder Kanzler sein». Das könne er fast nur über Neuwahlen werden. Neben dem möglicherweise fehlenden Regierungspartner gibt es dabei ein weiteres Problem: Die ÖVP soll hoch verschuldet sein. Für den Wunderwuzzi könnte es dieses Mal definitiv eng werden.
Shootingstars haben wir selbst auch schon gehabt. Nur wenige haben überzeugt, nur weil sie jung sind (waren).
Warum nur sollen wir die Politik und Politiker in unseren Nachbarländern kritisieren, solange wir uns zuhause mit wichtigen, ungelöste Probleme befassen sollten?
Wir, die Einmischungen ja gar nicht mögen?
Kurz ist gescheitert. Wie AT damit umgegeht ist nicht unser Bier.
Wir sind ja sonst auch sehr empfindlich, wenn "Fremde" sich "einmischen".