Am 9. Mai feierte der russische Präsident Wladimir Putin den «Tag des Sieges». Doch nicht alle Russen feierten mit.
Während der Feierlichkeiten rund um den 9. Mai kam es in ganz Russland zu mehreren Aktionen von Aktivisten, die sich auf die eine oder andere Art gegen das Regime sowie den aktuellen Angriffskrieg in der Ukraine auflehnten: Unter anderem liessen sie auf Schildern ihre Ahnen für den Frieden sprechen und zwei bis anhin Kreml-treue Journalisten überschwemmten ein Newsportal mit Anti-Kriegs-Texten.
Ein bei Weitem nicht vollständiger Einblick in den russischen Aktivismus am 9. Mai 2022:
Subtile Protest-Aktionen ereigneten sich am 9. Mai im Rahmen der Gedenkmärsche des «Unsterblichen Regiments Russland». Denn in diesem Jahr schmuggelten sich Aktivisten der Aktion «Dafür haben sie nicht gekämpft» unter die Massen, wie die deutlich regierungskritische Vesna-Bewegung in ihrem Telegramkanal berichtet.
Die Märsche «Unsterbliches Regiment Russland» finden seit 2012 in hunderten Städten in mehreren Ex-Sowjetstaaten statt. Dabei gedenken die Menschen ihren Ahnen, die während des «Grossen Vaterländischen Kriegs» getötet wurden. Dazu tragen sie Schilder mit sich, auf denen Fotos der gefallenen Soldaten oder getöteten Zivilisten zu sehen sind. Gerade in Russland sind die Porträts häufig mit einem Sankt-Georgs-Band geschmückt.
Allein in Moskau beteiligten sich im letzten Jahr rund 500'000 Menschen am Marsch «Unsterbliches Regiment Russland». Unter den Teilnehmenden war in den letzten Jahren auch Putin mit einem Porträt seines Vaters.
In einigen Städten organisierten sich in diesem Jahr also Aktivisten der Aktion «Dafür haben sie nicht gekämpft» innerhalb der Märsche des «Unsterblichen Regiments Russland». Sie trugen unter anderem Plakate, auf denen neben einem Foto des Veteranen kleine Anti-Kriegs-Botschaften prangten.
Einer der Teilnehmenden der Protestaktion war der bekannte Aktivist Wladimir Saltewsky in Nowosibirsk. Er marschierte gleich mit zwei Anti-Kriegs-Plakaten:
Und:
Saltewsky sei verhaftet worden und ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen «Diskreditierung der Armee» sei gegen ihn eröffnet worden, schreibt das Kreml-kritische Newsportal Mediazona. Saltewsky sei mittlerweile wieder auf freiem Fuss.
⚡️In Novosibirsk, on the procession «Immortal Regiment», police detained activist Vladimir Saltevsky.
— Flash (@Flash43191300) May 9, 2022
He was strolling with a poster - «I am ashamed for you, grandchildren. We fought for peace, you chose war». Police took the detainee to the police station. pic.twitter.com/1qW5huAXuX
In der Stadt Korolew wurde Jekaterina Woronina aus der Menge herausgezogen und festgenommen, da sie ein Schild mit dem Foto ihres Grossonkels hochhielt, auf dem zu lesen war:
Woronina befinde sich immer noch auf dem Polizeiposten, wie Ovd.info schreibt.
Ekaterina Voronina was taken to the Central Police Department of the Ministry of Internal Affairs Korolev. She was detained during the procession "Immortal Regiment" with a portrait of her great-uncle - a veteran of the Great Patriotic War. She added the portrait of a relative pic.twitter.com/R9UFcRKaMz
— Free Ukraine (@Mihoflowersy) May 9, 2022
In Irkutsk ist Amir Amayrech festgenommen worden. Er hielt ein A-4-Blatt, auf dem lediglich ein einziges Wort stand:
Der Menschenrechts-Anwalt Valery Teterin besuchte Amayrech auf dem Polizeiposten, berichtet Ovd.info. Noch am 9. Mai sei der Aktivist wieder freigekommen.
В Иркутске полиция задержала пикетчика Амира Амайреха с плакатом «Мир».
— ОВД-Инфо (@OvdInfo) May 9, 2022
Его доставили в отдел полиции № 5, к нему едет защитник Валерий Тетерин, сотрудничающий с ОВД-Инфо. Фото предоставлено задержанным.https://t.co/ePzh0UBywL pic.twitter.com/Zdss0u5PUh
In St.Petersburg wurde der städtische Abgeordnete Sergei Samusew festgenommen, da er mit einem Porträt des Konzentrationslager-Überlebenden Boris Romantschenko am «Unsterblichen Regiment Russland» teilnahm.
An einem Kontrollpunkt habe die Polizei die Inhalte der Plakate überprüft und Samusew ohne Erklärung festgenommen, wie Mediazona berichtet. Gegen den Politiker sei ein Verfahren wegen «Diskreditierung der russischen Armee» eröffnet worden, er befinde sich aber wieder in Freiheit.
Der 96-jährige Romantschenko wurde am 18. März 2022 in Charkiw unter den Trümmern seines Hauses begraben, nachdem eine russische Rakete eingeschlagen hatte.
In St.#Petersburg, municipal deputy Sergei Samusev was detained, because he tried to participate in the "Immortal Regiment" with a portrait of a prisoner of #Nazi concentration camps who died in #Kharkiv from #Russian bombing. pic.twitter.com/8cb8mjd1YI
— NEXTA (@nexta_tv) May 9, 2022
In Moskau wurde Artyom Potapow festgenommen, der Kriegsgegner am Rand des Marsches «Unsterbliches Regiment Russland» mit Süssigkeiten verwöhnte, das berichtet Ovd.info unter Berufung auf die Ehefrau Potapows.
Potapovw habe mit einer Schachtel Raffaellos auf einer Bank auf dem Puschkin-Platz gesessen und ein Schild neben sich liegen gehabt, auf dem stand:
Zusammen mit Potapow sei der Journalist Yegor Schatow festgenommen worden, der den stillen Demonstranten interviewte.
В Москве задержали человека, который угощал людей рафаэлкам за антивоенную позицию, и журналиста SOTA Егора Шатова, бравшего у него интервью. Артем Потапов сидел на лавочке на Пушкинской площади с табличкой «Кто против войны, угощайтесь конфетой». https://t.co/nrgWXjPLtS pic.twitter.com/QZJgVlBe9H
— ОВД-Инфо (@OvdInfo) May 9, 2022
Der Aktivist Nikita Roditschew platzierte sich mit einem durchaus provokativen Schild auf dem Trubnaya-Platz in Moskau, wie Avtozak LIVE berichtet. Auf seinem Schild war ein Peace-Symbol und daneben auf Englisch die Worte:
Roditschew wurde festgenommen.
Die zwei russische Journalisten, Alexandra Miroschnikowa und Egor Polyakow, fluteten am Morgen des 9. Mai die beliebte kremlnahe Newsportal Lenta.ru mit Antikriegsartikeln, wie unter anderem Meduza berichtete.
Es handelte sich um die grösste Protestaktion in den russischen Staatsmedien, seit Marina Owsjannikowa Mitte März mit dem Schild «Stoppt den Krieg» eine Nachrichtensendung stürmte.
Two journalists at the popular, once independent news website LentaRu staged a brief coup today, filling the homepage with anti-Putin, antiwar content. Quickly removed but remnants remain on search engines and online archives. pic.twitter.com/ACQbsOjrvv
— Kevin Rothrock (@KevinRothrock) May 9, 2022
In ihren Texten betitelten Poljakow und Miroschnikowa Putin als «erbärmlichen paranoiden Diktator» und beschuldigten ihn, für «den blutigsten Krieg des 21. Jahrhunderts» verantwortlich zu sein.
Später gaben sie dem britischen «Guardian» ein Interview, in dem der 30-jährige Polyakow sagt:
Die Titel der von Poljakow und Miroschnikowa veröffentlichten Artikel trugen Titel wie:
Poljakow erklärte dem «Guardian», dass jeder Artikel aufgrund von «online verfügbaren Informationen» verfasst worden sei. Die Artikel wurden inzwischen zwar von der Front genommen, können aber weiterhin über ein Web-Archiv-Tool abgerufen werden.
Lenta.ru ist eine der grössten Websites des Landes mit mehr als 200 Millionen monatlichen Usern. Bislang war sie ein fester Bestandteil der unerbittlichen Propagandamaschine, mit der Putin den Einmarsch Russland in die Ukraine rechtfertigte.
«Natürlich habe ich jetzt Angst», sagte Poljakow dem «Guardian». «Aber ich wusste, was ich tue und welche Folgen das haben kann.»
Trotzdem: Die beiden seien auf der Suche nach Anwälten und politischem Asyl, wie sie unter den Artikel «Krieg macht es einfacher, Misserfolge in der Wirtschaft zu vertuschen» schrieben.
Russland hat erst vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, bis zu 15 Jahre Haft auf nicht genehme Berichterstattung über den Krieg zu verhängen.
(yam)
(Nebenbei: Sind das nun auch «die Russen», die andere in anderen Beiträgen so beschimpfen?)