Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, steht nach umstrittenen Äusserungen über einen früheren Nationalistenführer unter Druck. Die israelische Botschaft in Deutschland warf Melnyk eine Verharmlosung des Holocaust vor. Polen rügte die Äusserungen als absolut inakzeptabel. Das ukrainische Aussenministerium, dem er unterstellt ist, nannte die Aussagen über Stepan Bandera (1909-1959) Melnyks persönliche Meinung, die nicht die offizielle Position wiedergebe. Melnyk selbst wollte sich nach Angaben einer Sprecherin der ukrainischen Botschaft in Berlin nicht äussern.
«Die Aussagen des ukrainischen Botschafters sind eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden», teilte die israelische Botschaft in Berlin am Freitag auf Twitter mit. Melnyks Darlegungen «untergraben auch den mutigen Kampf des ukrainischen Volkes, nach demokratischen Werten und in Frieden zu leben».
Melnyk hatte Bandera im Interview mit dem Journalisten Tilo Jung in Schutz genommen und gesagt: «Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen.» Melnyk zufolge wurde die Figur Banderas gezielt von der Sowjetunion dämonisiert. Der Botschafter warf deutschen, polnischen und israelischen Historikern vor, dabei mitgespielt zu haben. «Ich bin dagegen, dass man all die Verbrechen Bandera in die Schuhe schiebt», sagte der Diplomat. «Es gibt keine Belege, dass Bandera-Truppen Hunderttausende Juden ermordet haben.»
Da es wichtig ist, sich die komplette 19-minütige Passage von Melnyk zu Bandera anzusehen (und um propagandistischen Missbrauch entgegenzuwirken), veröffentliche ich sie hier in zwei Teilen (Teil 1) pic.twitter.com/DOZ4mbW2r9
— Tilo Jung (@TiloJung) June 30, 2022
Der polnische Vize-Aussenminister Marcin Przydacz sagte der Internetplattform Wirtualna Polska am Freitag: «So eine Auffassung und solche Worte sind absolut inakzeptabel.»
Das ukrainische Aussenministerium hatte in der Nacht zum Freitag auf seiner Webseite erklärt: «Die Meinung des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, die er in einem Interview mit einem deutschen Journalisten ausgedrückt hat, ist seine persönliche und gibt nicht die Position des ukrainischen Aussenministeriums wieder.»
Das Aussenministerium in Kiew dankte zudem Warschau für die derzeitige «beispiellose Hilfe» im Krieg gegen Russland. Wörtlich heisst es darin: «Wir sind überzeugt, dass die Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen derzeit auf ihrem Höhepunkt sind.»
Melnyk wollte die distanzierende Stellungnahme des Aussenministeriums in Kiew nicht kommentieren. Das teilte eine Sprecherin der Botschaft in Berlin auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Zur Begründung hiess es, ein Botschafter könne nicht die Erklärungen des eigenen Aussenministeriums kommentieren.
Bandera war ideologischer Führer des radikalen Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Nationalistische Partisanen aus dem Westen der Ukraine waren 1943 für ethnisch motivierte Vertreibungen verantwortlich, bei denen Zehntausende polnische Zivilisten ermordet wurden. Bandera floh nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland, wo er 1959 von einem Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB ermordet wurde.
Die deutsche Bundesregierung verwies auf die Stellungnahme des ukrainischen Aussenministeriums, das klargestellt habe, dass es sich um die persönliche Meinung des Botschafters handele. Man habe die Äusserungen Melnyks zur Kenntnis genommen, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin.
Melnyk ist in Deutschland auch durch scharfe Kritik an der Ukraine-Politik der Bundesregierung bekannt. Am Donnerstag hatte der Diplomat zahlreiche deutsche Prominente, die sich in einem Appell für einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg aussprachen, als «Haufen pseudo-intellektueller Versager» tituliert. (sda/dpa)
Er ist momentan für die Ukraine extrem wichtig, aber die Beleidigungen bewirken, dass man ihn nicht ernst nimmt, oder gar nicht mehr zuhört und die Äusserungen über Bandera machen es noch schlimmer.