International
Ukraine

Historiker Timothy Snyder: «Putins Macht schwindet»

Wladimir Putin und Timothy Snyder
Vladmir Putin steckt in der Falle zwischen seinen Rivalen, der Öffentlichkeit und der Armee – sagt Osteuropa-Experte Timothy Snyder.Bild: imago/keystone/watson

Warum Medwedews Bellen ein Zeichen der Schwäche Putins ist

Kaum jemand kennt Russland und die Ukraine so gut wie Timothy Snyder. Jetzt äussert sich der US-Historiker zur Situation von Kremlchef Putin. 
26.07.2022, 10:2426.07.2022, 10:26
Martin Küper / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Fünf Monate nach dem Überfall auf die Ukraine sieht der US-Historiker Timothy Snyder deutliche Anzeichen für einen Machtverfall im Kreml. «Putins Macht schwindet», schreibt der Experte für osteuropäische Geschichte in einem längeren Beitrag auf Twitter.

AUSTRIA - VIENNA - SNYDER ÖSTERREICH; WIEN; 20190513; Timothy Snyder Professor of History, Yale University, sowie Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Wien während e ...
Timothy Snyder 2019 an einer Podiumsdiskussion in Wien.Bild: imago-images

So deutet Snyder die jüngsten Äusserungen hochrangiger Politiker wie des früheren Präsidenten Dmitri Medwedew oder des Tschetschenenführers Ramsan Kydyrow als Beginn eines Machtkampfes für die Zeit nach Putin. «Neuerdings äussern sich regelmässig andere Leute als Putin über die Bedeutung des Krieges und welche schlimmen Konsequenzen der Ukraine und dem Westen drohen», schreibt Snyder. «Das ist ein Zeichen, dass Putin die Kontrolle verliert. Vor dem Krieg fühlte sich selten jemand ermächtigt, solche Ansagen zu machen.»

Was bezweckt Medwedew mit seiner Rhetorik?

Dmitri Medwedew war 2005 bis 2008 Ministerpräsident unter Putin und 2008 bis 2012 russischer Präsident. In Wahrheit behielt Putin wohl auch in diesen Jahren die Macht, die russische Verfassung sah damals aber nur zwei Amtszeiten für einen Präsidenten vor. Von 2012 bis 2020 war Medwedew dann wieder Ministerpräsident sowie Chef der Kreml-Partei «Einiges Russland».

In den vergangenen Wochen äusserte der 57-Jährige auf seinem Telegram-Kanal immer radikalere Drohungen gegen die Ukraine und den Westen. Nach Ansicht von Timothy Snyder bereitet sich Medwedew mit dieser «Weltuntergangspropaganda» auf die Zeit nach Putin vor.

>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker

«Auf den ersten Blick wirkt diese Rhetorik wie Loyalität zu Putin», analysiert Snyder. «Denn solange Russland verliert, besteht die grösste Hoffnung des Kreml darin, den Westen von der Unbesiegbarkeit Russlands zu überzeugen.» Wer sich jetzt besonders radikal äussere, müsse sich nach einer Niederlage nicht vorwerfen lassen, zu früh aufgegeben zu haben.

«Ich glaube nicht, dass Medwedew selbst an seine Hetzreden gegen Juden, Polen und den Westen glaubt», schreibt Timothy Snyder. «Er erzeugt ein Profil von sich, das ihm später noch nutzen könnte, so wie ihm früher sein Image als Beamter half». Medwedews drastische Äusserungen seien ein Hinweis darauf, «dass wichtige Russen glauben, dass Russland den Krieg verliert».

Plant Kadyrow schon die Unabhängigkeit Tschetscheniens?

Solche Hinweise erkennt Snyder auch im Verhalten von Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow. Dessen Kämpfer, die nach ihm benannten Kadyrowiten, hätten es geschafft, ihre Verluste in der Ukraine gering zu halten. «Aus Kadyrows Sicht ist das nur sinnvoll: So stehen sie ihm für einen späteren Machtkampf zur Verfügung.»

Das sei auch das Kalkül hinter Kadyrows jüngster Forderung nach Luftabwehrsystemen für Tschetschenien. «Als Grund nennt Kadyrow einen möglichen ukrainischen Angriff auf sein Territorium, aber das ist unglaubwürdig. Es klingt eher wie Vorbereitung auf die Zeit nach Putin, in der sich Tschetschenien für unabhängig erklären könnte.»

Die grösste Gefahr für Putins Macht sieht Snyder in der Schwäche des Militärs. «Die Armee ist eine wichtige Stütze für Putin, der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit ein wichtiger Teil seiner Propaganda». In der Ukraine würde die Armee aber so hohe Verluste an Menschen und Material erleiden, dass sie ihre andere Aufgaben nicht mehr erfüllen könne und als Institution bedroht sei, so Snyder: «Putin kann eine schwache Armee überleben, aber irgendwann wirkt eine schwache Armee auch nicht mehr stark.» Eine Armee, die im Iran Kampfdrohnen besorgen müsse , sei keine Armee von Weltklasse.

Snyder: Putin hat sich in eine Falle manövriert

Aus der Schwäche des Militärs erwächst nach Ansicht von Snyder auch Putins nächstes Problem: «Der russische Staat kann die Menschen zwar emotional für den Krieg mobilisieren, aber nicht körperlich.» So schrecke Putin vor einer Generalmobilmachung zurück aus Sorge, dass der Schritt seine Beliebtheit im Volk untergraben und sein Regime zu Fall bringen könnte. Stattdessen müssten die Teilrepubliken der russischen Föderation jetzt hochbezahlte «Freiwillige» aufstellen, die nach kurzem Training zum Sterben in die Ukraine geschickt würden. «Putin hat die Unterstützung des Volkes nur, solange der Krieg eine Show im Fernsehen ist.» 

Die aggressive Rhetorik russischer Politiker wie Medwedew und Kadyrow sei daher kein Ausdruck nationaler Einigkeit über den Krieg, sondern verdecke vielmehr das Fehlen eben dieser Einigkeit: «So lange sich alle an die nationalistische Rhetorik halten, bleibt das Gleichgewicht von Putins Macht erhalten. Es läuft aber darauf hinaus, dass alle den anderen etwas vormachen.»

Tatsächlich befinde sich Putin längst in der Falle zwischen seinen Rivalen, der Öffentlichkeit und der Armee, so Snyder: «Sie geben Putin nach aussen hin Recht und sagen, wir gewinnen den Krieg. Aber wenn der Krieg verloren geht, werden sie die ganze Schuld bei Putin abladen.» Dieser Falle könne Putin nur entkommen, indem er einen Sieg verkündet. «Putin wettet wie immer darauf, dass dem Westen die Sanktionen eher wehtun als ihm. In der Vergangenheit hat sich Putin als geschickter Spieler erwiesen. Ein guter Spieler weiss aber auch, wann Zeit ist, Spiel auszusteigen.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Gewaltiger Brand im Osten der Ukraine: «Die Russen verbrennen unser Brot»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
39 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Fernrohr
26.07.2022 10:45registriert Januar 2019
Dass das Ganze zu einem Machtspiel russischer Mafiabosse verkommt ist angesichts des Leids, welches über die Ukrainer kam, an Zynismus kaum zu überbieten. Putins Nachfolger dürfen nie aus der Schuld entlassen werden!
1845
Melden
Zum Kommentar
avatar
josoko
26.07.2022 11:49registriert Januar 2021
Kadyrow soll die Tschetschenische Unabhängigkeit anführen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der das überlebt, wenn er die Unterstützung des Kremls verliert. Der hat mehr Feinde als Freunde im eigenen Stall.
1253
Melden
Zum Kommentar
avatar
Ius cogens /// FCK PTN
26.07.2022 11:57registriert März 2016
Und genau deshalb sind Diktaturen der demokratischen Staatsform unterlegen. Aus Furcht vor dem Diktator lügen alle Untergebenen, woraufhin massive Fehlentscheidungen getroffen werden. Zudem werden intelligente und selbständig denkende Personen durch Marionetten ersetzt. Daraus resultiert dann group thinking mit allen bekannten Nachteilen. Gute Beispiele sind die Fehlentscheidungen der Naziführung im zweiten Weltkrieg, genausowie wie die Fehlentscheidungen der russischen Führung im feigen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder die Covid-Politik von China.
822
Melden
Zum Kommentar
39
Spektakel an der Copacabana: Madonna gibt Gratis-Konzert für 1,6 Millionen Fans

Riesenkonzert vom grössten Popstar der Welt, wie sie oft genannt wird: Madonna (65) hat am Copacabana-Strand im brasilianischen Rio de Janeiro ein Konzert ohne Eintrittsgeld vor Hunderttausenden gegeben. «Am Samstag trat die amerikanische Sängerin vor 1,6 Millionen Menschen auf», schrieb das Nachrichtenportal «G1» am Sonntag. «Es ist surreal, wenn man bedenkt, dass das Gesamtpublikum der mehr als 200 Shows der letzten drei Tourneen von Madonna kleiner ist, als das Publikum, das die Copacabana füllte.»

Zur Story