Es war wie in alten Zeiten: Als O. J. Simpson am Donnerstag vor einem Bewährungsausschuss im Bundesstaat Nevada auftrat, übertrugen alle grossen US-Fernsehsender seine Anhörung live. Amerika bleibt fasziniert von der Geschichte eines Mannes, der aus armen Verhältnissen zum Sport- und Filmstar aufstieg und heute als mutmasslicher Mörder und Räuber diskreditiert ist.
Entsprechend kontrovers wurde der einstimmige Entscheid des vierköpfigen Ausschusses aufgenommen, dass Simpson im Oktober das Gefängnis auf Bewährung verlassen darf. Er wird dann die Mindeststrafe von neun Jahren abgesessen haben, zu der er 2008 wegen eines bewaffneten Raubüberfalls auf zwei Fanartikel-Händler in Las Vegas verurteilt worden war.
Die Reaktionen auf die Freilassung reichten von Genugtuung bis zu blankem Entsetzen. «Mr. Simpson ist offensichtlich eine sehr polarisierende Figur», meinte sein Anwalt nach der Anhörung. Das ist noch untertrieben. Nicht einmal Donald Trump hat die USA so entzweit wie Orenthal James Simpson, der vor zwei Wochen seinen 70. Geburtstag feiern konnte.
Aus diesem Anlass zeigte der Fernsehsender Arte die fünfteilige Doku-Serie «O.J.: Made in America». Fast acht Stunden dauert das vom Sportsender ESPN produzierte Mammutwerk, das im Frühjahr mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Keine Minute ist vergeudet, denn Regisseur Ezra Edelman gelingt das Kunststück, einer in Grund und Boden analysierten Story neue Facetten zu entlocken und sie in den Kontext zu stellen.
Dieser hat sehr viel mit dem Rassismus in den USA allgemein und in Los Angeles im Besonderen zu tun. Edelman hat mit zahlreichen Beteiligten und Zeitzeugen gesprochen (Simpson selbst reagierte nicht auf seine Kontaktversuche). Daraus entwickelte er das vielschichtige Porträt eines Lebens und einer Karriere, die so nur in diesem Land stattfinden konnten. Made in America eben.
O. J. Simpson wuchs in einer ärmlichen Barackensiedlung in San Francisco auf. Sein Vater verliess die Familie, weil er nicht länger verleugnen wollte, dass er eigentlich Männer liebte. In diesem Milieu lernte O. J. schon früh, sich auch mit grenzwertigen Methoden zu behaupten. Seinen Erfolg aber verdankte er seiner Athletik: Er konnte unglaublich schnell und vor allem agil rennen.
Es waren perfekte Voraussetzungen für eine Karriere im American Football. Schon als Student sorgte O. J. für Furore, er gewann die Heisman-Trophäe, die wichtigste Auszeichnung im College Football. Als Profi wurde der blendend aussehende und eloquente Simpson endgültig zum Star. «The Juice» nannte man ihn, weil O. J.in den USA auch die Abkürzung von Orangensaft ist.
Dabei verfolgte er nur ein Ziel: Er wollte vom weissen Amerika anerkannt und geliebt werden. Schon 1969 sagte er der «New York Times», seine grösste Errungenschaft sei, dass man ihn «als Menschen betrachte, nicht als schwarzen Menschen». Während sich schwarze Sportler wie Muhammad Ali oder Bill Russell für die Bürgerrechtsbewegung engagierten, hielt er sich raus.
Lange ging diese Rechnung auf. Nach dem Ende seiner Football-Karriere zog Simpson nach Los Angeles, wo er sich im noblen Stadtteil Brentwood niederliess, in dem fast nur Weisse lebten. Er betätigte sich mit Erfolg als TV-Moderator, Schauspieler (unter anderem in den «Nackte Kanone»-Komödien) und Werbefigur. Seine TV-Spots für den Autovermieter Hertz waren Kult.
Er verkehrte in vornehmen Golfklubs mit den Reichen und Mächtigen. Als er 1985 in zweiter Ehe Nicole Brown heiratete, eine attraktive Blondine, die allen Männern den Kopf verdrehte, schien er endgültig in der Welt der Weissen angekommen zu sein. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, die Simpsons galten als Vorzeige-Familie. O. J. war ganz oben.
Die Kehrseite kam erst langsam ans Licht. Simpson war krankhaft eifersüchtig. In der Doku sind Notruf-Aufnahmen zu hören, in denen Nicole um Hilfe fleht, weil sie von ihrem Mann wieder einmal bedroht oder verprügelt wurde. Simpson wurde wegen häuslicher Gewalt verurteilt, doch mit seiner in der rauen Kindheit erlernten manipulativen Art konnte er sich herausreden.
Schliesslich hatte Nicole genug, sie reichte die Scheidung ein – und unterzeichnete damit ihr Todesurteil. Am 13. Juni 1994 wurde ihre Leiche in der Einfahrt ihres Hauses gefunden. Sie war mit einem Messer niedergemetzelt und beinahe geköpft worden.
Umgebracht wurde auch Ronald Goldman, der oft als Nicoles Freund bezeichnet wird. In Wirklichkeit war er eher ein Zufallsopfer. Er arbeitete als Kellner in einem Restaurant, in dem Nicole mit ihrer Familie zum Nachtessen war. Dabei ging eine Brille vergessen, die Goldman zurückbringen wollte. Er lief dem Mörder buchstäblich ins Messer.
Als Täter kam nur einer in Frage: Orenthal James Simpson. Er hatte ein Motiv, aber kein Alibi. Am Tatort wurde ein blutbefleckter Handschuh gefunden. Den zweiten fand die Polizei beim Gästehaus von Simpsons Villa. Die blutigen Fussspuren am Tatort stammten von italienischen Schuhen, von denen in den USA nur wenig Paar verkauft worden waren. Eines gehörte O. J. Simpson.
Als die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl erliess, kam es zu einer denkwürdigen «Verfolgungsjagd», die im Fernsehen live übertragen und fast von der ganzen Nation verfolgt wurde. Simpson sass auf dem Rücksitz eines weissen Ford Bronco, der von einem Freund gesteuert wurde. Er hatte eine Pistole und drohte, er werde sich das Leben nehmen.
So weit kam es nicht. Als er nach der Verhaftung und ersten Anhörung auf Kaution entlassen wurde und nach Hause zurückkehrte, wurde er von zahlreichen schwarzen Fans empfangen. Seine Reaktion darauf spricht Bände: «Was machen alle diese Nigger in Brentwood?». Damit kam der Rassismus ins Spiel, und O. J. wurde etwas, das er nie sein wollte: ein Held der Schwarzen.
Edelmans Doku schildert, wie es dazu kommen konnte. Filmausschnitte aus den 60ern zeigen Los Angeles als eine Art Paradies für Afroamerikaner, in dem sie vorurteilsfrei leben konnten. Die Realität sah ganz anders aus. In Polizei und Justiz von LA war Rassismus an der Tagesordnung. Geschildert werden diverse Beispiele von Übergriffen auf Schwarze, die ungeahndet blieben.
Das bekannteste Beispiel ist der Fall des Kleinkriminellen Rodney King, der 1991 von einer Polizeipatrouille gestoppt und brutal verprügelt wurde. Ein Anwohner filmte das Geschehen, vier – weisse – Polizisten kamen vor Gericht. Eine rein weisse Jury in einem Vorort von LA sprach sie jedoch frei. Die Folge davon waren die schlimmsten Rassenunruhen in den USA seit Jahren.
Ein Freispruch trotz klarer Beweislage – im Fall von O. J. Simpson wiederholte sich dies mit umgekehrten Vorzeichen. Der Prozess wegen des Mordes an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman begann im Januar 1995, dauerte 266 Tage und war geprägt von einer naiven bis dilettantischen Anklage auf der einen und einer skrupellosen Verteidigung auf der anderen Seite.
Simpson leistete sich ein illustres Anwaltsteam, das 50'000 Dollar kostete – pro Tag. Dazu gehörte sein Freund Robert Kardashian, der Vater von Kim. Geleitet wurde es von Johnnie Cochran, einem ehemaligen Bürgerrechts-Anwalt. Er sorgte dafür, dass der Prozess in Downtown LA stattfand und acht der zwölf Geschworenen schwarz waren. Und er spielte hemmungslos die «Rassenkarte» aus.
Bei einem Lokaltermin veranlasste er, dass Simpsons Villa «eingeschwärzt» wurde. Fotos, die den Star mit Weissen zeigten, wurden entfernt und durch Aufnahmen ersetzt, auf denen er mit Schwarzen posierte. Manche dürfte O. J. noch nie gesehen haben. Ausserdem gelang es Cochran, einen der ermittelnden Polizisten auf fragwürdige Weise als Rassisten zu «entlarven».
Der grösste Coup gelang den Verteidigern mit den beiden Handschuhen. Als Simpson sie anprobieren sollte, passten sie ihm überhaupt nicht. Erst später kam heraus, dass der ehemalige Football-Profi zuvor seine Arthritis-Medikamente abgesetzt und deshalb geschwollene Hände hatte. Ausserdem trug er Latex-Handschuhe. Die Anklage hatte sich blamiert.
Mit seinen Tricks gelang es Johnnie Cochran, die Ressentiments der Schwarzen in Los Angeles zu wecken. Nach nur vier Stunden Beratung sprachen die Geschworenen O. J. Simpson am 3. Oktober 1995 frei, trotz der klaren Indizienlage. Noch krasser waren die Folgen: Das schwarze Amerika bejubelte das Urteil, während die Weissen entsetzt waren.
Vielen wurde erst richtig bewusst, wie tief die Kluft zwischen dem schwarzen und weissen Amerika war. Und wie gross der Frust der Afroamerikaner über die Schikanen von Polizei und Justiz. Sie wussten, dass Simpson wahrscheinlich schuldig war. Aber wie konnte man es den Weissen besser heimzahlen, als einen Schwarzen freizusprechen, der zwei Weisse umgebracht hatte?
White America aber schlug zurück. Zwei Jahre später fand der Zivilprozess gegen O. J. Simpson statt. Ins Gefängnis konnte er nicht mehr, aber die weissen Geschworenen verurteilten ihn zur Zahlung von 33,5 Millionen Dollar an die Familien Brown und Goldman. Einige Besitztümer wurden konfisziert, darunter die Heisman-Trophäe, sein Haus wurde verkauft und abgerissen.
Simpson zog nach Florida, wo ihm die Gesetze erlaubten, einen Teil seines Vermögens dem Zugriff zu entziehen, darunter seine Rente als Football-Profi. Am Ende erwischte ihn die Justiz trotzdem. 2007 wollte er sich in einem Hotel in Las Vegas von Fanartikel-Händlern einige Erinnerungsstücke zurückholen, die ihm angeblich gestohlen worden waren.
Zum Verhängnis wurde ihm, dass einer seiner Begleiter eine Schusswaffe dabei hatte. Um seinen Hals zu retten, schob er alle Schuld auf O. J. Dieser wurde wegen bewaffnetem Raubüberfall angeklagt. Das Urteil erging auf den Tag genau 13 Jahre nach dem Freispruch im Mordprozess, die Maximalstrafe von 33 Jahren Gefängnis entsprach der Summe aus dem Zivilverfahren.
Die zuständige Richterin wies entsprechende Vorwürfe zurück, doch der Fall war klar: Das weisse Amerika hatte sich am gefallenen Helden gerächt. Es spielte keine Rolle, dass Bruce Fromong, einer der beiden Fanartikel-Händler, unter anderem in «O. J.: Made in America» aussagte, der «bewaffnete Überfall» sei eher eine lautstarke Auseinandersetzung gewesen.
In der Anhörung vom Donnerstag setzte sich Fromong für Simpsons Freilassung ein. Auch der damals für den Fall zuständige Staatsanwalt sprach sich dafür aus. Rechtlich ist am Entscheid des Ausschusses kaum etwas auszusetzen. Moralisch aber müsste er eigentlich aus Sicht vieler – nicht nur weisser – Amerikaner für den Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben.
O. J. Simpson verkörpert in mehrfacher Hinsicht die dunkle Seite Amerikas. Er dürfte auch nach seiner Freilassung nicht so schnell aus der Öffentlichkeit verschwinden. In der Anhörung gab er sich als geläuterter Christ. Seine Schuld will oder kann er sich anscheinend nicht eingestehen. «Ich habe ein ziemlich konfliktfreies Leben geführt», sagte er. Und die Nation schaute zu.