
O. J. Simpson in der Anhörung am Donnerstag.Bild: EPA/Reno Gazette-Journal POOL
Der ehemalige
Footballstar und mutmassliche Doppelmörder O. J. Simpson wird bald
aus der Haft entlassen. Seine Geschichte ist ein Musterbeispiel für
Starkult und Rassismus in den USA.
22.07.2017, 18:0523.07.2017, 11:02

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Es war wie in alten
Zeiten: Als O. J. Simpson am Donnerstag vor einem Bewährungsausschuss
im Bundesstaat Nevada auftrat, übertrugen alle grossen
US-Fernsehsender seine Anhörung live. Amerika bleibt fasziniert von
der Geschichte eines Mannes, der aus armen Verhältnissen zum Sport-
und Filmstar aufstieg und heute als mutmasslicher Mörder und Räuber
diskreditiert ist.
Entsprechend
kontrovers wurde der einstimmige Entscheid des vierköpfigen
Ausschusses aufgenommen, dass Simpson im Oktober das Gefängnis auf
Bewährung verlassen darf. Er wird dann die Mindeststrafe von neun
Jahren abgesessen haben, zu der er 2008 wegen eines bewaffneten
Raubüberfalls auf zwei Fanartikel-Händler in Las Vegas verurteilt
worden war.
Die Reaktionen auf
die Freilassung reichten von Genugtuung bis zu blankem Entsetzen. «Mr. Simpson ist offensichtlich eine sehr polarisierende Figur»,
meinte sein Anwalt nach der Anhörung. Das ist noch untertrieben.
Nicht einmal Donald Trump hat die USA so entzweit wie Orenthal James
Simpson, der vor zwei Wochen seinen 70. Geburtstag feiern konnte.
Im Rassismus-Kontext
Aus diesem Anlass
zeigte der Fernsehsender Arte die fünfteilige Doku-Serie «O.J.:
Made in America». Fast acht Stunden dauert das vom Sportsender ESPN
produzierte Mammutwerk, das im Frühjahr mit dem Oscar für den
besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Keine Minute ist
vergeudet, denn Regisseur Ezra Edelman gelingt das Kunststück, einer
in Grund und Boden analysierten Story neue Facetten zu entlocken und
sie in den Kontext zu stellen.
Dieser hat sehr viel
mit dem Rassismus in den USA allgemein und in Los Angeles im
Besonderen zu tun. Edelman hat mit zahlreichen Beteiligten und
Zeitzeugen gesprochen (Simpson selbst reagierte nicht auf seine
Kontaktversuche). Daraus entwickelte er das vielschichtige Porträt eines Lebens und einer Karriere, die so nur in diesem Land
stattfinden konnten. Made in America eben.
O. J. Simpson wuchs
in einer ärmlichen Barackensiedlung in San Francisco auf. Sein Vater
verliess die Familie, weil er nicht länger verleugnen wollte, dass
er eigentlich Männer liebte. In diesem Milieu lernte O. J. schon
früh, sich auch mit grenzwertigen Methoden zu behaupten. Seinen
Erfolg aber verdankte er seiner Athletik: Er konnte unglaublich
schnell und vor allem agil rennen.

Als Profi spielte O. J. Simpson für die Buffalo Bills.Bild: AP/AP
Es waren perfekte
Voraussetzungen für eine Karriere im American Football. Schon als
Student sorgte O. J. für Furore, er gewann die Heisman-Trophäe, die
wichtigste Auszeichnung im College Football. Als Profi wurde der
blendend aussehende und eloquente Simpson endgültig zum Star. «The
Juice» nannte man ihn, weil O. J.in den USA auch die Abkürzung von
Orangensaft ist.
Ein Held des weissen Amerikas
Dabei verfolgte er
nur ein Ziel: Er wollte vom weissen Amerika anerkannt und geliebt
werden. Schon 1969 sagte er der «New York Times», seine grösste
Errungenschaft sei, dass man ihn «als Menschen betrachte, nicht als
schwarzen Menschen». Während sich schwarze Sportler wie
Muhammad Ali oder Bill Russell für die Bürgerrechtsbewegung
engagierten, hielt er sich raus.
Lange ging diese
Rechnung auf. Nach dem Ende seiner Football-Karriere zog Simpson nach
Los Angeles, wo er sich im noblen Stadtteil Brentwood niederliess, in
dem fast nur Weisse lebten. Er betätigte sich mit Erfolg als
TV-Moderator, Schauspieler (unter anderem in den «Nackte
Kanone»-Komödien) und Werbefigur. Seine TV-Spots für den
Autovermieter Hertz waren Kult.
Prügelnder Ehemann
Er verkehrte in
vornehmen Golfklubs mit den Reichen und Mächtigen. Als er 1985 in
zweiter Ehe Nicole Brown heiratete, eine attraktive Blondine, die
allen Männern den Kopf verdrehte, schien er endgültig in der Welt
der Weissen angekommen zu sein. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, die
Simpsons galten als Vorzeige-Familie. O. J. war ganz oben.
Die Kehrseite kam
erst langsam ans Licht. Simpson war krankhaft eifersüchtig. In der
Doku sind Notruf-Aufnahmen zu hören, in denen Nicole um Hilfe fleht,
weil sie von ihrem Mann wieder einmal bedroht oder verprügelt wurde.
Simpson wurde wegen häuslicher Gewalt verurteilt, doch mit seiner in
der rauen Kindheit erlernten manipulativen Art konnte er sich herausreden.
Der Doppelmord
Schliesslich hatte
Nicole genug, sie reichte die Scheidung ein – und
unterzeichnete damit ihr Todesurteil. Am 13. Juni 1994 wurde ihre
Leiche in der Einfahrt ihres Hauses gefunden. Sie war
mit einem Messer niedergemetzelt und beinahe geköpft worden.
Umgebracht wurde
auch Ronald Goldman, der oft als Nicoles Freund bezeichnet wird. In
Wirklichkeit war er eher ein Zufallsopfer. Er arbeitete als Kellner
in einem Restaurant, in dem Nicole mit ihrer Familie zum Nachtessen
war. Dabei ging eine Brille vergessen, die Goldman zurückbringen
wollte. Er lief dem Mörder buchstäblich ins
Messer.
Eindeutige Indizien
Als Täter kam nur
einer in Frage: Orenthal James Simpson. Er hatte ein Motiv, aber kein
Alibi. Am Tatort wurde ein blutbefleckter Handschuh gefunden. Den
zweiten fand die Polizei beim Gästehaus von Simpsons Villa. Die
blutigen Fussspuren am Tatort stammten von italienischen
Schuhen, von denen in den USA nur wenig Paar verkauft worden
waren. Eines gehörte O. J. Simpson.
Als die
Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl erliess, kam es zu einer
denkwürdigen «Verfolgungsjagd», die im Fernsehen live übertragen
und fast von der ganzen Nation verfolgt wurde. Simpson sass auf dem
Rücksitz eines weissen Ford Bronco, der von einem Freund gesteuert
wurde. Er hatte eine Pistole und drohte, er werde sich das Leben
nehmen.
«Nigger in Brentwood»
So weit kam es
nicht. Als er nach der Verhaftung und ersten Anhörung auf Kaution
entlassen wurde und nach Hause zurückkehrte, wurde er von
zahlreichen schwarzen Fans empfangen. Seine Reaktion darauf spricht
Bände: «Was machen alle diese Nigger in Brentwood?». Damit kam
der Rassismus ins Spiel, und O. J. wurde etwas, das er nie sein
wollte: ein Held der Schwarzen.
Edelmans Doku
schildert, wie es dazu kommen konnte. Filmausschnitte aus den 60ern
zeigen Los Angeles als eine Art Paradies für Afroamerikaner, in dem
sie vorurteilsfrei leben konnten. Die Realität sah ganz anders aus.
In Polizei und Justiz von LA war Rassismus an der Tagesordnung.
Geschildert werden diverse Beispiele von Übergriffen auf Schwarze,
die ungeahndet blieben.
Der Fall Rodney King
Das bekannteste
Beispiel ist der Fall des Kleinkriminellen Rodney King, der 1991 von
einer Polizeipatrouille gestoppt und brutal verprügelt wurde. Ein
Anwohner filmte das Geschehen, vier – weisse – Polizisten kamen
vor Gericht. Eine rein weisse Jury in einem Vorort von LA sprach sie
jedoch frei. Die Folge davon waren die schlimmsten Rassenunruhen in
den USA seit Jahren.
Ein Freispruch trotz
klarer Beweislage – im Fall von O. J. Simpson wiederholte sich dies
mit umgekehrten Vorzeichen. Der Prozess wegen des Mordes an Nicole
Brown Simpson und Ronald Goldman begann im Januar 1995, dauerte 266
Tage und war geprägt von einer naiven bis dilettantischen Anklage
auf der einen und einer skrupellosen Verteidigung auf der anderen
Seite.
Cochran und die «Rassenkarte»
Simpson leistete
sich ein illustres Anwaltsteam, das 50'000 Dollar kostete – pro
Tag. Dazu gehörte sein Freund Robert Kardashian, der Vater von Kim.
Geleitet wurde es von Johnnie Cochran, einem ehemaligen
Bürgerrechts-Anwalt. Er sorgte dafür, dass der Prozess in Downtown
LA stattfand und acht der zwölf Geschworenen schwarz waren. Und er
spielte hemmungslos die «Rassenkarte» aus.
Bei einem
Lokaltermin veranlasste er, dass Simpsons Villa «eingeschwärzt» wurde. Fotos, die den Star mit Weissen zeigten, wurden entfernt und
durch Aufnahmen ersetzt, auf denen er mit Schwarzen posierte. Manche dürfte O. J. noch nie gesehen haben. Ausserdem gelang es
Cochran, einen der ermittelnden Polizisten auf fragwürdige Weise als
Rassisten zu «entlarven».
Ein Freispruch spaltet das Land
Der grösste Coup
gelang den Verteidigern mit den beiden Handschuhen. Als Simpson sie
anprobieren sollte, passten sie ihm überhaupt nicht. Erst später
kam heraus, dass der ehemalige Football-Profi zuvor seine
Arthritis-Medikamente abgesetzt und deshalb geschwollene Hände
hatte. Ausserdem trug er Latex-Handschuhe. Die Anklage hatte sich
blamiert.
Mit seinen Tricks
gelang es Johnnie Cochran, die Ressentiments der
Schwarzen in Los Angeles zu wecken. Nach nur vier
Stunden Beratung sprachen die Geschworenen O. J. Simpson am 3. Oktober
1995 frei, trotz der klaren Indizienlage. Noch krasser waren die
Folgen: Das schwarze Amerika bejubelte das Urteil, während die
Weissen entsetzt waren.
White America schlägt zurück
Vielen wurde erst
richtig bewusst, wie tief die Kluft zwischen dem schwarzen und
weissen Amerika war. Und wie gross der Frust der Afroamerikaner über
die Schikanen von Polizei und Justiz. Sie wussten, dass Simpson
wahrscheinlich schuldig war. Aber wie konnte man es den Weissen
besser heimzahlen, als einen Schwarzen freizusprechen, der zwei
Weisse umgebracht hatte?
White America aber
schlug zurück. Zwei Jahre später fand der Zivilprozess gegen O. J.
Simpson statt. Ins Gefängnis konnte er nicht mehr, aber die weissen
Geschworenen verurteilten ihn zur Zahlung von 33,5 Millionen Dollar
an die Familien Brown und Goldman. Einige Besitztümer wurden
konfisziert, darunter die Heisman-Trophäe, sein Haus wurde verkauft
und abgerissen.
Simpson zog
nach Florida, wo ihm die Gesetze erlaubten, einen Teil seines
Vermögens dem Zugriff zu entziehen, darunter seine Rente als
Football-Profi. Am Ende erwischte ihn die Justiz trotzdem. 2007
wollte er sich in einem Hotel in Las Vegas von Fanartikel-Händlern
einige Erinnerungsstücke zurückholen, die ihm angeblich gestohlen
worden waren.
Symbolisches Urteil
Zum Verhängnis
wurde ihm, dass einer seiner Begleiter eine Schusswaffe dabei hatte.
Um seinen Hals zu retten, schob er alle Schuld auf O. J. Dieser wurde
wegen bewaffnetem Raubüberfall angeklagt. Das Urteil erging auf den
Tag genau 13 Jahre nach dem Freispruch im Mordprozess, die
Maximalstrafe von 33 Jahren Gefängnis entsprach der Summe aus dem
Zivilverfahren.
Die zuständige
Richterin wies entsprechende Vorwürfe zurück, doch der Fall war
klar: Das weisse Amerika hatte sich am gefallenen Helden gerächt. Es
spielte keine Rolle, dass Bruce Fromong, einer der beiden
Fanartikel-Händler, unter anderem in «O. J.: Made in America» aussagte, der «bewaffnete Überfall» sei eher eine lautstarke
Auseinandersetzung gewesen.
«Ein konfliktfreies Leben»
In der Anhörung vom
Donnerstag setzte sich Fromong für Simpsons Freilassung ein. Auch
der damals für den Fall zuständige Staatsanwalt sprach sich dafür
aus. Rechtlich ist am Entscheid des Ausschusses kaum etwas
auszusetzen. Moralisch aber müsste er eigentlich aus Sicht vieler –
nicht nur weisser – Amerikaner für den Rest seines Lebens im
Gefängnis bleiben.
O. J. Simpson
verkörpert in mehrfacher Hinsicht die dunkle Seite Amerikas. Er
dürfte auch nach seiner Freilassung nicht so schnell aus der
Öffentlichkeit verschwinden. In der Anhörung gab er sich als
geläuterter Christ. Seine Schuld will oder kann er sich anscheinend
nicht eingestehen. «Ich habe ein ziemlich konfliktfreies Leben
geführt», sagte er. Und die Nation schaute zu.
American Crime Story: The People vs. O. J. Simpson
Video: watson
Gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA
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Gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA
quelle: getty images north america / joe raedle
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