Ist sie die Zukunft der amerikanischen Politik oder ein überschätztes Zeitgeist-Phänomen? An Alexandria Ocasio-Cortez scheiden sich die Geister, nicht nur auf der watson-Redaktion. Die 29-jährige Kongressabgeordnete aus New York bewegt die USA. Auf mehr Medienpräsenz als AOC, wie sie genannt wird, kommt nur Donald Trump.
Der Rummel um die selbsternannte demokratische Sozialistin ist seit ihrem Amtsantritt im Januar nicht verebbt. Regelmässig sorgt Ocasio-Cortez für Schlagzeilen, etwa wenn sie eine Steuer von 70 Prozent auf Einkommen von mehr als zehn Millionen Dollar pro Jahr fordert. Oder wenn sie den Green New Deal vorstellt, ein ambitioniertes Programm, um die US-Wirtschaft auf Nachhaltigkeit zu trimmen.
Allerdings ist AOC kein Hors-Sol-Produkt. Hinter ihr steht eine Gruppierung, die sich Justice Democrats (Gerechtigkeits-Demokraten) nennt. Ihre Ziele sind ambitiös. Sie wollen nichts weniger als die linke Politik in den USA neu erfinden, «koste es, was es wolle», so die Website Politico. Damit wollen sie die Demokratische Partei umkrempeln und schliesslich das ganze Land.
Solche revolutionären Pläne scheinen auf den ersten Blick illusorisch. Die USA und Sozialismus, das passt etwa so gut zusammen wie Feuer und Wasser. Die Justice Democrats aber meinen es ernst. Zu ihren Zielen gehören neben dem Green New Deal eine staatliche Krankenversicherung für alle und die Abschaffung der umstrittenen Grenzschutzbehörde ICE.
Ein weiteres Anliegen sind unentgeltliche Hochschulen. Damit stossen sie bei den Millennials auf offene Ohren, die wegen den exorbitanten Kosten für eine hochwertige Ausbildung häufig mit einem Schuldenberg in ein ungewisses Erwerbsleben starten müssen. Und die enttäuscht sind über die Entwicklung der Demokraten zu einer elitären Partei von Hollywood und Wall Street.
Zu den Grundsätzen der Justice Democrats, die sich als Political Action Committee (PAC) formiert haben, gehört deshalb die Weigerung, Grossspenden von Firmen zu akzeptieren. Gegründet wurde die Gruppierung nach Donald Trumps Wahlsieg 2016 von vier Männern aus der Tech-Branche. Zwei waren in einer führenden Rolle im Wahlkampfteam von Bernie Sanders tätig.
Dazu gehört Saikat Chakrabarti. Der Harvard-Absolvent arbeitete für ein Startup in der Bay Area, war aber zunehmend desillusioniert über die dortige Unternehmenskultur. Deshalb heuerte er bei Bernie Sanders an: «Ich war mir nicht ganz sicher, ob er für alles die richtige Lösung hatte, aber ich wusste, dass er die richtigen Probleme ansprach», sagte Chakrabarti dem Magazin «Rolling Stone».
Nach dem Scheitern des linken «Rebellen» Sanders in der demokratischen Vorwahl gegen die Establishment-Kandidatin Hillary Clinton war für ihn und seine Mitstreiter klar: Sie mussten die Partei von innen erneuern, mit mehr Jungen, mehr Frauen, mehr Angehörigen von Minderheiten und vor allem mehr Linken. «Wir brauchen neue Anführer, Punkt», sagte Saikat Chakrabarti.
Für die Midterms im letzten November rekrutierten die Justice Democrats zwölf Kandierende. Die Bilanz war gelinde gesagt bescheiden. Elf blieben auf der Strecke, nur eine schaffte es in den Kongress: Alexandria Ocasio-Cortez. Sie hatte sich ebenfalls für Sanders engagiert und arbeitete vier Nächte pro Woche als Barfrau in Manhattan, als die Erneuerer via ihren Bruder auf sie zukamen.
Die attraktive und redegewandte Latina entpuppte sich bislang als Glücksfall. Sie besiegte in der internen Vorwahl das Schwergewicht Joe Crowley, einen führenden Demokraten im Kongress. Nun mischt sie Washington auf, mit Saikat Chakrabarti als «rechte Hand» und Büroleiter.
Der AOC-Hype hat die Justice Democrats auf den Geschmack gebracht. Obwohl sie immer noch eine ziemlich handgestrickte Organisation sind, die nicht einmal über eigene Büros verfügt, wollen sie 2020 eine Reihe von Establishment-Demokraten angreifen, die teilweise seit Jahrzehnten im Repräsentantenhaus sitzen, darunter einige aus dem Grossraum New York.
Spuren hat ihr Aktivismus bereits hinterlassen. Mehrere Präsidentschaftskandidaten unterstützen den Green New Deal. An der Parteispitze sorgt der linke Furor hingegen für Unbehagen. Sie ist sich bewusst, dass die Demokraten nur Erfolg haben können, wenn sie in der politischen Mitte punkten. Und dort ist die bisherige Bilanz der Justice Democrats noch bescheidener.
In umkämpften Wahlkreisen haben von ihnen aufgestellte oder unterstützte Kandidaten im letzten November ausnahmslos verloren. Für die Rechten in den USA und ihre medialen «Kampfhunde» ist der Linksrutsch bei den Demokraten deshalb ein gefundenes Fressen. Sie könnten sich verrechnen, denn die Anliegen der Linken werden zumindest im Grundsatz immer populärer.
Bis weit in den Mittelstand wächst das Unbehagen über die Ungleichheit. 40 Prozent der Amerikaner haben nicht genügend finanzielle Reserven, um ungeplante Ausgaben von 400 Dollar zu bezahlen. Während ein Gigant wie Amazon letztes Jahr trotz eines Gewinns von elf Milliarden Dollar nicht nur keine Steuern zahlte, sondern sogar eine Rückerstattung erhielt.
Die Justice Democrats jedenfalls haben Blut geleckt. «Es wird einen Krieg in der Partei geben, und wir werden uns daran beteiligen», sagte Waleed Shahid, der Sprecher der Gruppierung, gegenüber Politico. Solche martialischen Töne kommen im Establishment schlecht an. Angeblich gibt es Pläne für eine innerparteiliche Herausforderung von Ocasio-Cortez bei den Wahlen 2020.
Dies wirkt angesichts ihres Starappeals verwegen. Doch selbst Demokraten, die den Kurs der «neuen Linken» unterstützen, warnen vor negativen Folgen. «Unser Hauptziel muss sein, Donald Trump zu stoppen», sagte Ro Khanna, ein Kongressabgeordneter aus dem Silicon Valley, zu Politico. «Wir müssen unsere Munition für die Republikaner aufsparen und nicht für interne Querelen.»
Die Justice Democrats und andere linke Gruppen bringen zweifellos frischen Wind in ihre Partei. Allerdings müssen sie aufpassen, dass er sich nicht zu einem Sturm entwickelt, der die Demokraten zerreisst. Darüber freuen könnte sich nur einer: Donald Trump.