International
Wirtschaft

Attentat auf Kishida: Wie Japan zum Problemfall wurde

epa10573310 Japanese Prime Minister Fumio Kishida (C) speaks at Motoyawata Station in Ichikawa, Chiba Prefecture, east of Tokyo, Japan, 15 April 2023. Earlier on 15 April, a loud explosion was heard j ...
Schon kurz nach dem missglückten Attentat vom Samstag befand sich Premierminister Fumio Kishida (Mitte) wieder im Wahlkampf.Bild: keystone

Wie Japan von der Vorzeige-Nation zum Problemfall wurde

Japan gilt als eines der sichersten Länder der Welt. Nun wurde zweimal innerhalb weniger Monate ein Attentat auf einen ranghohen Politiker verübt. Das wirft ein Schlaglicht auf eine Nation im Dauerstillstand.
18.04.2023, 09:21
Mehr «International»

Fumio Kishida hatte Glück. Und einen aufmerksamen Begleiter. Dieser wischte mit seinem Aktenkoffer geistesgegenwärtig eine Rohrbombe weg, die bei einem Wahlkampfauftritt am Samstag in der westjapanischen Stadt Wakayama in Richtung des Regierungschefs geworfen wurde. Kishida kam mit dem Schrecken davon, niemand wurde ernsthaft verletzt.

Das Attentat ging glimpflich aus, dennoch war das Entsetzen gross. Denn nur neun Monate zuvor war Kishidas Vorvorgänger Shinzō Abe zwei Tage vor der Oberhauswahl in Nara auf offener Strasse niedergeschossen worden. Der 67-jährige Abe, der Premierminister mit der längsten Amtszeit in der japanischen Geschichte, erlag im Spital seinen Verletzungen.

Anschlag auf Japans Ex-Regierungschef Abe

1 / 11
Anschlag auf Japans Ex-Regierungschef Abe
Anschlag auf Japans früheren Regierungschef Shinzo Abe: Während einer Wahlkampfrede wurde auf ihn geschossen.
quelle: keystone
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Der 41-jährige Attentäter hatte eine selbstgebastelte Schusswaffe verwendet. Als Motiv gab er an, Abe sei mitverantwortlich für den finanziellen Ruin seiner Mutter. Der 24-Jährige, der den Rohrbomben-Anschlag vom Samstag auf Premier Kishida verübt hatte, verweigert laut Polizeiangaben bislang jegliche Aussage über sein Tatmotiv.

Oberflächlich ist alles prima

Zwei Anschläge auf ranghohe Politiker innerhalb von weniger als einem Jahr: Das wäre in fast jedem Land der Welt ungewöhnlich. In Japan ist es geradezu unheimlich. Es kann reiner Zufall sein und passt doch überhaupt nicht zu einer Gesellschaft, die sehr auf Harmonie bedacht ist und lange als eine Art Vorzeige-Nation betrachtet wurde.

Oberflächlich betrachtet stimmt das noch heute. Das «Land der aufgehenden Sonne» ist die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt hinter den USA und China. Die Japanerinnen und Japaner erfreuen sich der höchsten Lebenserwartung weltweit. Die Kriminalität ist so gering wie in kaum einem anderen Land, auch dank strenger Waffengesetze.

«Japan steckt fest»

Kulturell und kulinarisch gehört Japan zu den führenden Ländern. Sein dichtes Netz an Hochgeschwindigkeits-Zügen, die auf den Hauptachsen teilweise im S-Bahn-Takt verkehren, gilt als beispielhaft. Bei genauer Betrachtung aber liegt manches im Argen. «Japan steckt fest», meinte der ehemalige Tokio-Korrespondent der BBC im Januar in einer Reportage.

In zwei Bereichen zeigt sich der Niedergang des Kaiserreichs besonders deutlich:

Die Wirtschaft

A person walks in front of an electronic stock board showing Japan's Nikkei 225 index at a securities firm in the rain Thursday, March 23, 2023, in Tokyo. Asian shares were mostly lower Thursday  ...
Der Nikkei-Aktienindex hat sein Allzeithoch vom Dezember 1989 nie mehr auch nur annähernd erreicht.Bild: keystone

In den 1980er-Jahren wurde Japan als neue wirtschaftliche Supermacht bewundert und gefürchtet. Doch 1991 platzte eine gewaltige Aktien- und Immobilienblase. Seither befindet sich das Land in einer Dauerstagnation. Als Folge davon erhöhten die Liberaldemokraten, die Japan seit dem Zweiten Weltkrieg fast pausenlos regieren, die Staatsausgaben massiv.

Die Staatsverschuldung, die 1990 bei 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag, explodierte auf 264 Prozent. Damit ist Japan gemäss dem Internationalen Währungsfonds das am höchsten verschuldete Land weltweit. Zum Bankrott kommt es nicht, weil der grösste Teil der Schulden bei der Zentralbank liegt und die Zinsen extrem tief sind.

Vor rund zehn Jahren versuchte Shinzō Abe, die lahmende Wirtschaft anzukurbeln. Seine «Abenomics» genannte Wirtschaftspolitik basierte auf einer lockeren Geldpolitik, staatlichen Konjunkturprogrammen und einer Deregulierung unter anderem des Arbeitsmarkts. Das führte zu einem kurzzeitigen Aufschwung, der jedoch nicht nachhaltig blieb.

Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass die «Anstellung auf Lebenszeit» nicht mehr garantiert ist. Das schlägt auf das Einkommen durch. Auf dem Höhepunkt des Booms waren die Japaner reicher als die Amerikaner. Heute ist ihr Durchschnittslohn im Ranking der OECD tiefer als in Südkorea und sogar Italien.

Das irritiert, denn gemäss den Marktregeln müssten die Löhne in Japan eigentlich stark ansteigen. Dem Land fehlen die Arbeitskräfte, aus einem bestimmten Grund:

Die Demografie

epaselect epa10519770 An elderly woman walks past a shop in Tokyo, Japan, 09 March 2023 (issued 13 March 2023). According to figures released by the Ministry of Health on 28 February 2023, births in 2 ...
Japan vergreist: 2022 wurden so wenige Kinder geboren wie nie seit Beginn der statistischen Erhebungen.Bild: keystone

In kaum einem Land ist die Geburtenrate so tief wie in Japan. 2022 wurden weniger als 800’000 Neugeborene registriert, bei 125 Millionen Einwohnern. In den 1970er-Jahren waren es dreimal so viele. Schon heute ist Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung hinter dem Fürstentum Monaco. Jeder dritte Mensch ist über 60 Jahre alt.

Das Kaiserreich vergreist rapide. Immer mehr Leute arbeiten weit über das Pensionsalter hinaus, ob gewollt oder ungewollt. Ministerpräsident Fumio Kishida hat eine Reihe von Massnahmen angekündigt, um die Geburtenrate zu erhöhen. Dazu gehören Zuschüsse für die Kinderbetreuung, denn Nachwuchs ist in Japan ein teurer «Spass».

Allerdings haben solche Massnahmen schon in anderen Ländern wenig bewirkt. Und Einwanderung ist in Japan ein heisses Eisen. Nur etwa drei Prozent der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Das hat vor allem kulturelle Gründe: Eine «homogene» Gesellschaft hat für viele Japanerinnen und Japaner nach wie vor einen hohen Stellenwert.

Das zeigt sich in verschiedenen Bereichen: Die Dominanz ausländischer Kämpfer im Nationalsport Sumo etwa ist vielen konservativen Japanern ein Dorn im Auge. Und als Japan zu Beginn der Coronapandemie die Grenzen schloss, durften selbst Menschen nicht mehr einreisen, die teilweise seit Jahrzehnten im Kaiserreich wohnhaft waren.

epa08919584 (FILE) - Yokozuna or grand champion sumo wrestler Hakuho Sho, born on 11 March 1985 as Monkhbatyn Davaajargal in Ulaanbataar, Mongolia, performs a ring-purification ritual at Meiji-Jingu S ...
Hakuho Sho ist der erfolgreichste Sumo-Kämpfer der Geschichte. Er stammt wie viele seiner Kollegen aus der Mongolei.Bild: keystone

Als der BBC-Korrespondent das Aussenministerium nach den Gründen befragte, lautete die unverblümte Antwort: «Das sind alles Ausländer.» Sein ernüchterndes Fazit: Mehr als 150 Jahre nachdem es von den US-Amerikanern zur Aufgabe seiner Selbstisolation gezwungen wurde, sei Japan «immer noch skeptisch und sogar ängstlich gegenüber der Aussenwelt».

Schüchterne Versuche der Regierung, mehr Einwanderung zuzulassen, blieben in Ansätzen stecken. Stattdessen setzt Japan auf eine Automatisierung und Robotisierung der Arbeits- und Wirtschaftswelt. Für Aufsehen sorgten etwa Versuche mit Robotern in der Altenpflege. Das aber ist Symptombekämpfung, die an der zunehmenden Vergreisung nichts ändert.

In gewisser Weise befindet sich Japan in einem Dilemma, das sich kaum auflösen lässt. Für einen erneuten Aufschwung müsse sich das Land verändern, aber es würde dadurch vieles von dem einbüssen, was es besonders mache, lautet das Fazit der BBC-Reportage. Vielleicht ist das ein Teil der Erklärung dafür, dass Politiker im wahrsten Sinn zur Zielscheibe werden.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Verlassenes Japan: Die unheimliche Fotokunst Shane Thoms'
1 / 13
Verlassenes Japan: Die unheimliche Fotokunst Shane Thoms'
Ein ehemaliger Stripclub in Okayama.
quelle: shanethoms.com / shanethoms.com
Auf Facebook teilenAuf X teilen
So schützte ein Leibwächter der japanische Premierminister
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
59 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Jep.
18.04.2023 09:46registriert Januar 2022
Eine abenteuerliche Verbindung von den Attentaten über die Staatsverschuldung zu den Ausländern im Sumo. Und das alles in einem viel zu kurzen, halbpatzigen Artikel, der mehr Infos weglässt als im Text übrig bleiben.
23314
Melden
Zum Kommentar
avatar
insert_brain_here
18.04.2023 10:11registriert Oktober 2019
Wir richten die komplette Gesellschaft ausschliesslich auf die - scheinbaren - Bedürfnisse der Wirtschaft aus und ignorieren sämtliche Probleme die das für die Bevölkerung bringt, warum wollen die Menschen bloss keine Kinder mehr? Völlig unverständlich…
11710
Melden
Zum Kommentar
avatar
schoeggeli
18.04.2023 10:38registriert März 2023
Seltsamer Kommentar. Das Attentat auf Abe zeigte Japans fehlende Kontrolle über die Moon-Sekte (Unification Church) und deren grossen Einfluss auf die Regierungspartei LDP. Der kürzliche Attentatsversuch auf Kishida zeigte die Frustration eines jungen Japaners mit den Hürden (u.a. Mindestalter 25) für eine politische Karriere und Frustration über Abe und die korrupte LDP. Diese Sichtweisen sind nicht extrem, sonder weit verbreitet in Japan: das Land hat eine überalterte, männliche politische Elite und wird von den Beamten in den Ministerien geführt.
955
Melden
Zum Kommentar
59
    Ukrainische Soldaten setzen Hoffnung auf Trump – Enttäuschung über Europa wächst

    Plötzlich Krieg, hiess es vor fast drei Jahren. Der russische Machthaber Wladimir Putin liess am 23. Februar 2022 seine Soldaten in die Ukraine einmarschieren. Damals noch in dem Glauben, dass er das kleine Nachbarland in Windeseile einnehmen würde.

    Zur Story