Fumio Kishida hatte Glück. Und einen aufmerksamen Begleiter. Dieser wischte mit seinem Aktenkoffer geistesgegenwärtig eine Rohrbombe weg, die bei einem Wahlkampfauftritt am Samstag in der westjapanischen Stadt Wakayama in Richtung des Regierungschefs geworfen wurde. Kishida kam mit dem Schrecken davon, niemand wurde ernsthaft verletzt.
Das Attentat ging glimpflich aus, dennoch war das Entsetzen gross. Denn nur neun Monate zuvor war Kishidas Vorvorgänger Shinzō Abe zwei Tage vor der Oberhauswahl in Nara auf offener Strasse niedergeschossen worden. Der 67-jährige Abe, der Premierminister mit der längsten Amtszeit in der japanischen Geschichte, erlag im Spital seinen Verletzungen.
Der 41-jährige Attentäter hatte eine selbstgebastelte Schusswaffe verwendet. Als Motiv gab er an, Abe sei mitverantwortlich für den finanziellen Ruin seiner Mutter. Der 24-Jährige, der den Rohrbomben-Anschlag vom Samstag auf Premier Kishida verübt hatte, verweigert laut Polizeiangaben bislang jegliche Aussage über sein Tatmotiv.
Zwei Anschläge auf ranghohe Politiker innerhalb von weniger als einem Jahr: Das wäre in fast jedem Land der Welt ungewöhnlich. In Japan ist es geradezu unheimlich. Es kann reiner Zufall sein und passt doch überhaupt nicht zu einer Gesellschaft, die sehr auf Harmonie bedacht ist und lange als eine Art Vorzeige-Nation betrachtet wurde.
Oberflächlich betrachtet stimmt das noch heute. Das «Land der aufgehenden Sonne» ist die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt hinter den USA und China. Die Japanerinnen und Japaner erfreuen sich der höchsten Lebenserwartung weltweit. Die Kriminalität ist so gering wie in kaum einem anderen Land, auch dank strenger Waffengesetze.
Kulturell und kulinarisch gehört Japan zu den führenden Ländern. Sein dichtes Netz an Hochgeschwindigkeits-Zügen, die auf den Hauptachsen teilweise im S-Bahn-Takt verkehren, gilt als beispielhaft. Bei genauer Betrachtung aber liegt manches im Argen. «Japan steckt fest», meinte der ehemalige Tokio-Korrespondent der BBC im Januar in einer Reportage.
In zwei Bereichen zeigt sich der Niedergang des Kaiserreichs besonders deutlich:
In den 1980er-Jahren wurde Japan als neue wirtschaftliche Supermacht bewundert und gefürchtet. Doch 1991 platzte eine gewaltige Aktien- und Immobilienblase. Seither befindet sich das Land in einer Dauerstagnation. Als Folge davon erhöhten die Liberaldemokraten, die Japan seit dem Zweiten Weltkrieg fast pausenlos regieren, die Staatsausgaben massiv.
Die Staatsverschuldung, die 1990 bei 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag, explodierte auf 264 Prozent. Damit ist Japan gemäss dem Internationalen Währungsfonds das am höchsten verschuldete Land weltweit. Zum Bankrott kommt es nicht, weil der grösste Teil der Schulden bei der Zentralbank liegt und die Zinsen extrem tief sind.
Vor rund zehn Jahren versuchte Shinzō Abe, die lahmende Wirtschaft anzukurbeln. Seine «Abenomics» genannte Wirtschaftspolitik basierte auf einer lockeren Geldpolitik, staatlichen Konjunkturprogrammen und einer Deregulierung unter anderem des Arbeitsmarkts. Das führte zu einem kurzzeitigen Aufschwung, der jedoch nicht nachhaltig blieb.
Für die Bevölkerung bedeutet dies, dass die «Anstellung auf Lebenszeit» nicht mehr garantiert ist. Das schlägt auf das Einkommen durch. Auf dem Höhepunkt des Booms waren die Japaner reicher als die Amerikaner. Heute ist ihr Durchschnittslohn im Ranking der OECD tiefer als in Südkorea und sogar Italien.
Das irritiert, denn gemäss den Marktregeln müssten die Löhne in Japan eigentlich stark ansteigen. Dem Land fehlen die Arbeitskräfte, aus einem bestimmten Grund:
In kaum einem Land ist die Geburtenrate so tief wie in Japan. 2022 wurden weniger als 800’000 Neugeborene registriert, bei 125 Millionen Einwohnern. In den 1970er-Jahren waren es dreimal so viele. Schon heute ist Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung hinter dem Fürstentum Monaco. Jeder dritte Mensch ist über 60 Jahre alt.
Das Kaiserreich vergreist rapide. Immer mehr Leute arbeiten weit über das Pensionsalter hinaus, ob gewollt oder ungewollt. Ministerpräsident Fumio Kishida hat eine Reihe von Massnahmen angekündigt, um die Geburtenrate zu erhöhen. Dazu gehören Zuschüsse für die Kinderbetreuung, denn Nachwuchs ist in Japan ein teurer «Spass».
Allerdings haben solche Massnahmen schon in anderen Ländern wenig bewirkt. Und Einwanderung ist in Japan ein heisses Eisen. Nur etwa drei Prozent der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Das hat vor allem kulturelle Gründe: Eine «homogene» Gesellschaft hat für viele Japanerinnen und Japaner nach wie vor einen hohen Stellenwert.
Das zeigt sich in verschiedenen Bereichen: Die Dominanz ausländischer Kämpfer im Nationalsport Sumo etwa ist vielen konservativen Japanern ein Dorn im Auge. Und als Japan zu Beginn der Coronapandemie die Grenzen schloss, durften selbst Menschen nicht mehr einreisen, die teilweise seit Jahrzehnten im Kaiserreich wohnhaft waren.
Als der BBC-Korrespondent das Aussenministerium nach den Gründen befragte, lautete die unverblümte Antwort: «Das sind alles Ausländer.» Sein ernüchterndes Fazit: Mehr als 150 Jahre nachdem es von den US-Amerikanern zur Aufgabe seiner Selbstisolation gezwungen wurde, sei Japan «immer noch skeptisch und sogar ängstlich gegenüber der Aussenwelt».
Schüchterne Versuche der Regierung, mehr Einwanderung zuzulassen, blieben in Ansätzen stecken. Stattdessen setzt Japan auf eine Automatisierung und Robotisierung der Arbeits- und Wirtschaftswelt. Für Aufsehen sorgten etwa Versuche mit Robotern in der Altenpflege. Das aber ist Symptombekämpfung, die an der zunehmenden Vergreisung nichts ändert.
In gewisser Weise befindet sich Japan in einem Dilemma, das sich kaum auflösen lässt. Für einen erneuten Aufschwung müsse sich das Land verändern, aber es würde dadurch vieles von dem einbüssen, was es besonders mache, lautet das Fazit der BBC-Reportage. Vielleicht ist das ein Teil der Erklärung dafür, dass Politiker im wahrsten Sinn zur Zielscheibe werden.