Frau Engbersen, Theresa Mays Brexit-Deal mit der EU ist gestern im Parlament krachend gescheitert. Wie nehmen Sie die Stimmung in Grossbritannien wahr?
Henriette Engbersen: Ich würde sagen, es gibt nicht «die eine Stimmung». Je nach Haltung zum Brexit sind die Menschen in unterschiedlicher Stimmung. Ich habe gestern die Abstimmung vor dem Parlament mitverfolgt. Da gab es auf der einen Seite Demonstranten, die für einen harten Brexit sind und deshalb Mays Deal ablehnen. Auf der anderen Seite waren da Demonstranten, die für ein zweites Referendum und einen Verbleib Grossbritanniens in der EU sind. Bei der Bekanntgabe des Resultats haben beide gejubelt. Weil sie darauf hoffen, dass sie ihren – komplett unterschiedlichen – Zielen einen Schritt näher gekommen sind.
Für die britische Wirtschaft bedeutet das Nein zu Mays Deal anhaltende Unsicherheit. Wie reagieren die Unternehmer?
In der Wirtschaft macht man sich grosse Sorgen. Ich war am letzten Freitag bei einem Transportunternehmer, der rund 70 Lastwagen besitzt. Wie viele andere hat auch er Angst vor einem No-Deal-Brexit. Er befürchtet, dabei in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Bereits jetzt sind ihm einzelne Kunden abgesprungen. Eine Firma, die durch seine Fahrer Güter von Grossbritannien in die EU transportieren liess, hat angesichts der unsicheren Brexit-Situation einen Hub in Belgien eingerichtet. Wenn weitere Kunden abspringen, wird er Fahrer entlassen müssen.
Zweieinhalb Jahre nach der Abstimmung und bloss zehn Wochen vor dem Austrittsdatum am 29. März 2019 hat die Politik keinen mehrheitsfähigen Plan für einen Brexit. Wie geht die Bevölkerung mit dieser Situation um?
Der Frust über den bisherigen Verlauf des Brexits ist weit verbreitet. Die Briten sind wütend darüber, dass die Politik es nicht geschafft hat, den ganzen Prozess in einer geordneten Art und Weise abzuwickeln. Die Regierung hat viel Vertrauen verloren – viele Leute glauben ihr schlicht nicht mehr.
Grossbritannien wird derzeit oft als gespaltenes Land beschrieben. Wie zeigt sich das im Alltag?
Tatsächlich führen die Diskussion über den Brexit teilweise zu Streit im Freundeskreis und der Familie. Ich habe kürzlich mit einer jungen Frau gesprochen, die für ein zweites Referendum ist und in der EU bleiben möchte. Ihre Mutter ist für den Brexit. Die Frau hat mir erzählt, wie sie sich mit ihrer Mutter in einem Pub derart heftig gestritten hat, dass die Mutter mehrere Bierdeckel nach ihr geworfen hat. Doch die beiden Lager treffen nicht überall so direkt aufeinander.
Weshalb nicht?
Ähnlich wie es in der Schweiz zu beobachten ist, trennen sich die politischen Ansichten je länger desto mehr geografisch voneinander ab. Vereinfacht gesagt: In London etwa sind die Brexit-Gegner deutlich in der Mehrheit, während auf dem Land die Befürworter dominieren.
In Schottland und Nordirland sprach sich 2016 eine Mehrheit gegen den Brexit aus, wurde aber mit den Ja-Stimmen aus England und Wales überstimmt. Droht das Vereinigte Königreich bei einem ungeordneten Brexit auseinanderzufallen?
Ich halte dieses Szenario für etwas alarmistisch. Es ist zweifellos so: Wird der Brexit in einer Art und Weise ausfallen, welche sehr distanzierte Beziehungen zur EU vorsieht, wachsen in Schottland die Gelüste für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Viele Schotten mögen Brüssel mehr als Westminster. Aber bis zu einer allfälligen Unabhängigkeit Schottlands ist es ein sehr weiter Weg.
Wie ist die Lage in Nordirland?
Sollte die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland nach einem Brexit zu einer «harten» EU-Aussengrenze werden, könnte das tatsächlich zu einzelnen Scharmützeln und Auseinandersetzungen führen.
Weshalb?
Für die katholisch-republikanischen Nordiren, welche von einem vereinten Irland träumen, war die «weiche» Grenze zu Irland ein wichtiger Aspekt des Friedensabkommens von 1998. Dank der de facto unsichtbaren Grenze zu Irland fühlten sie sich in ihrer irischen Identität gestärkt, auch wenn sie als Nordiren Bürger und Bewohner des Vereinigten Königreichs blieben. Wird wieder eine harte Grenze heraufgezogen, sind beispielsweise Sachbeschädigungen an Überwachungskameras und Zollstationen nicht auszuschliessen. Aber die Rede von einem drohenden Wiederaufflackern des Bürgerkriegs halte ich für stark übertrieben.
Sie haben Ihre Korrespondentenstelle in London im Frühjahr 2017 angetreten. Zwei Jahre später steht Grossbritannien kurz vor dem Austrittsdatum ohne mehrheitsfähigen Deal mit der EU da. Hätten Sie sich damals eine solche Entwicklung vorstellen können?
Ich denke, man hat von Anfang an gemerkt, dass der Brexit einige Knoten hat, die schwierig zu lösen sein werden: Nordirland, Freihandel, Personenfreizügigkeit und mehr. Ich dachte mir zeitweise schon: «Das kann ja nicht gut herauskommen.» Aber gleichzeitig habe ich lange gedacht, dass es irgendwie ja doch gehen könnte. Doch die zahlreichen Widersprüche des Brexits zeichneten sich je länger desto deutlicher ab. Und das führte zu dem politischen Orkan, in dem sich das Land derzeit befindet.
Die erwähnten Widersprüche waren ja Teil der Kampagne der Brexit-Befürworter: Diese versprachen gleichzeitig mehr Souveränität, wirtschaftliche Vorteile und ein unbelastetes Verhältnis zur EU. Waren diese Versprechen gar nie einlösbar?
Zweifellos intelligente Leute wie etwa Ex-Aussenminister Boris Johnson halten bis heute an gewissen Kampagnenaussagen fest: Sie versprechen – überspitzt ausgedrückt –, dass Milch und Honig fliessen werden. Zum Teil werden wirtschaftliche Fakten schlicht negiert: Der Freihandel mit Ländern wie Australien oder Neuseeland wird als Alternative zum Handel mit der EU propagiert, obwohl er nicht einmal annähernd gleich bedeutend ist. Das finde ich zwar stossend, aber vielleicht ist es Folge der fehlenden direktdemokratischen Tradition Grossbritanniens.
Was meinen Sie damit?
Natürlich werfen wir auch in der Schweiz den Politikern manchmal vor, dass sie im Abstimmungskampf mit ihren Behauptungen zu weit gehen. Aber bei uns weiss jeder Politiker: In drei Monaten gibt es die nächste Abstimmung. Wenn meine Behauptungen zu dreist waren, leidet die Glaubwürdigkeit darunter und könnte das nächste Mal Stimmen kosten. In Grossbritannien sind Volksabstimmungen äussert selten. Seit den 70er Jahren gab es landesweit erst drei Referenden, in den einzelnen Landesteilen einige mehr. Von der Anzahl her ist das kein Vergleich mit der Abstimmungshäufigkeit in der Schweiz. Vielleicht fühlten sich einige Politiker im Abstimmungskampf auch deshalb weniger der Wahrheit verpflichtet.
Was hält man in Grossbritannien für die wahrscheinlichsten Lauf der Dinge in den nächsten Wochen?
Das Misstrauensvotum heute Abend wird Theresa May vermutlich überstehen. Damit stehen keine unmittelbaren Neuwahlen bevor. In welcher Weise – und ob – der Brexit stattfinden wird, darüber herrscht unter den Prognostikern keine Einigkeit. Jemand hat mir mal gesagt: «Es gibt nur unwahrscheinliche Optionen, aber eine davon wird eintreffen».
Mit welcher rechnen Sie persönlich?
Eine Mehrheit des Parlaments will keinen ungeregelten Brexit. Deshalb rechne ich damit, dass May das Austrittsdatum in Absprache mit der EU nach hinten verschiebt. Auf dieses Szenario habe ich übrigens vor kurzem gewettet. Das habe ich zuvor noch nie gemacht. Tritt es ein, würde ich bloss 25 Pfund erhalten – bei einem Einsatz von 20 Pfund. Im wettverrückten Grossbritannien ist diese tiefe Quote ein starkes Indiz dafür: Viele Briten rechnen ebenfalls mit diesem Szenario.