Es ist eines jener weltgeschichtlichen Ereignisse, bei denen jeder Mensch genau sagen kann, wo er sich aufgehalten hat, als er davon erfuhr. Am 11. September 2001 rasten zwei Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center (WTC) in New York. Eine weitere Maschine kollidierte mit dem Pentagon in Washington, und ein vierter Jet, der vermutlich in Richtung Washington unterwegs war, zerschellte im Bundesstaat Pennsylvania am Boden.
Die Anschläge von 9/11 erschütterten die Welt. Als Urheber wurde das Terrornetzwerk Al Kaida von Osama Bin Laden ermittelt. Es hatte 19 Attentäter in die USA eingeschleust, die Flugunterricht nahmen und am 11. September mit Teppichmessern bewaffnet die vier Flugzeuge kaperten. Schon bald tauchten Zweifel an dieser offiziellen Version auf. Echte oder vermeintliche Ungereimtheiten führten zur Theorie, wonach 9/11 eine Inszenierung der US-Regierung war.
Die Verschwörungstheorien zum 11. September haben sich zu einer Art Industrie entwickelt. Mehrere «Dokumentarfilme» sind dazu entstanden. Selbst vermeintlich seriöse Zeitgenossen wie der ehemalige deutsche SPD-Minister Andreas von Bülow mischen in der Szene mit. Als Motiv werden die Invasionen in Afghanistan und Irak genannt, mit denen die USA ihre Hegemonialmacht ausbauen und die Kontrolle über die Ölvorkommen im Nahen Osten sichern wollten.
Angesichts des Desasters, das die Amerikaner dabei anrichteten, haben diese Ideen an Strahlkraft verloren. Trotzdem sind viele Menschen dafür anfällig. 15 Jahre nach 9/11 zeigen wir die populärsten Verschwörungstheorien. Und unterziehen sie einem Realitätstest.
Der Kollaps der Zwillingstürme ist zum Symbol von 9/11 geworden. Um ihn ranken sich zahlreiche Thesen. Die populärste besagt, dass Flugzeugeinschläge und Brände die beiden Wolkenkratzer unmöglich zum Einsturz bringen konnten. Kerosin könne nicht genügend Hitze entwickeln, um Stahlträger zum Schmelzen zu bringen. Es habe sich um kontrollierte Sprengungen gehandelt.
Bereits am Nachmittag des 11. September tauchte diese Theorie erstmals auf. Bei einer Sprengung hätte der Einsturz aber wohl im unteren Teil der Türme beginnen müssen. Doch sie kollabierten von oben nach unten. Die Stahlträger mussten gar nicht schmelzen. Es genügte, wenn sie instabil werden, was bereits bei mehreren hundert Grad Hitze der Fall ist.
Das Gebäude Nummer 7 des World Trade Center ist der Liebling der Verschwörungstheoretiker. Es stürzte rund sieben Stunden nach den Twin Towers ein, obwohl es scheinbar kaum beschädigt war. Für die Verschwörungsgemeinde ist dies der Beweis, dass es gesprengt wurde. Damit sollten die Spuren der Inszenierung beseitigt werden, denn in WTC7 befanden sich Büros verschiedener Behörden, darunter CIA und Secret Service.
Allerdings zeigen die Conspiracy-Buffs meist nur die vermeintlich intakte Südseite des 47-stöckigen Bauwerks. Auf der anderen Seite sieht man, dass im Innern Brände wüteten und die Hülle durch den Crash der beiden Türme massiv beschädigt wurde. Die Feuerwehr warnte bereits um 15 Uhr Ortszeit vor dem Einsturz, der mehr als zwei Stunden danach eintrat. Und muss man die angebliche Zentrale der Verschwörer auf eine derart auffällige Weise beseitigen?
Unter den Verschwörungstheorien findet man auch welche mit antisemitischer Stossrichtung. Demnach war neben dem US-Geheimdienst CIA auch der israelische Mossad an der Verschwörung beteiligt. Rund 4000 Juden seien gewarnt worden, sich am 11. September vom WTC fernzuhalten. Diese These wurde in arabischen Ländern und vom ehemaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad verbreitet.
Es gibt jedoch keine Beweise für eine Vorwarnung. Es stellt sich ohnehin die Frage, wie man diese Leute hätte identifizieren und benachrichtigen sollen. Ausserdem kamen je nach Schätzung gegen 400 Juden bei den Anschlägen ums Leben. Die Zahl 4000 bezieht sich offenbar auf einen Bericht in der «Jerusalem Post» vom 12. September 2001, wonach rund 4000 Israelis von ihren Angehörigen nicht kontaktiert werden konnten. Das galt für viele Länder, auch die Schweiz.
Das US-Verteidigungsministerium wurde von einer Boeing 757 der American Airlines getroffen. Anders als beim WTC gibt es keine Bilddokumente, nur unklare Aufnahmen einer Überwachungskamera. Verschwörungstheoretiker glauben, dass das Pentagon von einer Rakete oder einem Marschflugkörper getroffen wurde. Die Schäden seien für den Aufprall einer Passagiermaschine zu gering, und auf den Fotos seien keine Flugzeugtrümmer zu sehen.
Dabei wird ausgeblendet, dass das Pentagon ein solides Bauwerk ist, dessen Aussenhülle bei einer Renovation 1993 verstärkt wurde. Nach dem Terroranschlag in Oklahoma City 1995 erfolgten zusätzliche Massnahmen. Der Einschlag der Boeing konnte es nur bedingt beschädigen. Auf anderen Fotos sieht man zudem Teile eines Flugzeugs.
Der schwierigste Fall für die Verschwörungsgemeinde ist Flug 93 der United Airlines, der bei Shanksville in Pennsylvania auf einem Feld zerschellte. Laut offizieller Lesart kämpften die Passagiere gegen die Entführer, worauf diese den Jet abstürzen liessen. Die Gegenthese lautet, das Flugzeug sei von einem Kampfjet abgeschossen worden. Dies könnte auch das Fehlen grosser Trümmerteile an der angeblichen Absturzstelle erklären.
Allerdings dürfte UA 93 mit hoher Geschwindigkeit aufgeprallt und dabei regelrecht zerfetzt worden sein. Tatsächlich fand man in einem weiteren Umkreis kleine Trümmer und Leichenteile. Ungereimtheiten gibt es auch um die Passagiere, von denen viele nachweislich mit ihren Angehörigen telefoniert und von der Entführung berichtet hatten. Konnte das inszeniert worden sein? Und was wurde aus diesen Leuten? Hat man sie einfach so zum Verschwinden gebracht?
Die grösste Schwäche der Verschwörungstheorien um den vierten Jet aber ist die Frage, welchen Sinn die Inszenierung ergeben soll. Die anderen drei Flugzeuge hätten genügt, um den gewünschten Zweck zu erreichen. Wozu also das ganze Theater um UA 93?
Angesichts der wackeligen Argumente für eine US-Inszenierung wird gerne eine weitere Theorie vorgebracht: Die Anschläge wurden von den Al-Kaida-Terroristen um Mohammed Atta verübt, aber die US-Regierung wusste Bescheid und liess sie gewähren, um so ihre Ziele zu erreichen. Damit wirkt sie mindestens so niederträchtig, wie wenn sie die Anschläge selbst verübt hätte.
Tatsächlich gab es im Vorfeld verschiedene Hinweise. Die CIA wusste sogar, dass sich einige der späteren Attentäter in den USA aufhielten. Sie gab die Hinweise jedoch nicht an die zuständige Bundespolizei FBI weiter. Dabei ging es nicht um Vertuschung. Zwischen den Behörden herrschte damals ein Klima des Misstrauens. Der Autor Lawrence Wright spricht in seinem Buch «Der Tod wird euch finden» von einer eigentlichen Mauer. Sie stürzte erst nach den Anschlägen ein.
Gänzlich ausschliessen lässt sich eine Mitwisserschaft der Regierung Bush nicht. Aber sie krankt am Grundproblem aller Verschwörungstheorien: Sie hätte zahlreiche Mitwisser benötigt. Bei einer Inszenierung wären es Dutzende oder gar Hunderte gewesen. Es wäre schwierig gewesen, sie zu beseitigen oder sonst zum Schweigen zu bringen. Irgendwann hätte jemand ausgepackt. Das liegt in der menschlichen Natur.
Ein weiteres Problem ist der Irak-Krieg, zu dem 9/11 angeblich den Vorwand lieferte. Geführt wurde er mit zwei Argumenten: Saddam Hussein besitzt Massenvernichtungswaffen, und er war in die Anschläge verwickelt. Beides erwies sich bekanntlich als Einbildung. Kann es sein, dass eine Regierung, die eine derart aufwändige Anschlagsserie wie jene vom 11. September aufziehen kann, nicht in der Lage ist, die entsprechenden «Beweise» zu fabrizieren?
Nach offizieller Lesart stammten 15 der 19 Attentäter aus Saudi-Arabien, dem wichtigsten Verbündeten der USA in der Region. Hätte man nicht besser Iraker dafür «verwendet», wenigstens ein paar? Doch kein einziger war unter den Beteiligten. Und hätte es die CIA nicht fertigbringen können, Saddam wenigsten einige Chemiebömbchen unterzujubeln?
Paradoxerweise hat dieses «Versagen» im Irak die Zustimmung zu den Verschwörungstheorien über 9/11 in den USA ansteigen lassen. Wenn das Misstrauen gegenüber der Regierung zunimmt, traut man ihr offenbar jede Schandtat zu. Es ist jedoch das Wesen aller Verschwörungstheorien, dass sie verblassen, je länger ein Ereignis zurückliegt und wenn handfeste Beweise fehlen. Das gilt selbst für das Attentat auf John F. Kennedy 1963 mit seinen nicht wenigen Ungereimtheiten. Irgendwann wird dies auch auf 9/11 zutreffen.