Buingchang am frühen Morgen: Schwer schwebt der Smog über der südostchinesischen Metropole. Passanten hasten durch Gassen, die zu eng sind, um sich darin wohlzufühlen. Sie tragen weisse Schutzmasken über Mund und Nase. Wirken abweisend. Manche von ihnen gehen an einem Lagerhaus vorbei, das schon lange nichts mehr gelagert hat ausser einem einzigen Sack Reis. Seit Jahren ist er da, doch die Leute wissen nichts von seiner Existenz. Und selbst wenn sie es wüssten, wäre es ihnen wahrscheinlich egal. Besuch bekommt er nur von den Männern in den schwarzen Anzügen.
Sein Name ist Fallum Gong.
Er sitzt gekrümmt am Boden. Seine Haut ist zerknittert, die unteren Ecken ganz abgewetzt. Eine hat bereits ein Loch, ein paar Reiskörner liegen daneben auf dem Boden.
Sie sehen sehr müde aus. Mögen Sie überhaupt mit uns reden?
Fallum Gong: Sie sind den weiten Weg aus der Schweiz hierher gekommen, um meine Geschichte zu hören. Also werde ich sie Ihnen auch erzählen. Reiskorn für Reiskorn. Wenn Sie mögen. Ich will mich Ihnen ja auch nicht aufbürden.
Womit wollen Sie beginnen?
Mein Leben hat keinen Anfang. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass je etwas anders war. Ich habe gehört, dass die Menschen gemeinhin mit Unschuld beginnen.
Meinen Sie damit, Sie hatten keine schöne Kindheit?
Das Konzept Kindheit, so wie Sie es verstehen, beinhaltet das Kindsein. Unbeschwertes Herumhüpfen und solche Sachen. Ich war nie ein Kind. Im Grunde bin ich immer schon der Sack Reis gewesen, der in China umgefallen ist. Abgesehen davon kann ich überhaupt nicht hüpfen.
Das Umfallen ist also nichts, was Sie gerne tun?
Ich zähle in dieser Geschichte nicht. Die Männer kommen in ihren dunklen Limousinen angefahren, meistens mehrmals täglich. Sie treten mich so lange, bis ich am Boden liege. Und manche hören auch dann nicht auf.
Aber warum?
Damit die Menschen im Westen sagen können, dass in China ein Sack Reis umgefallen sei. Umgefallen, verstehen Sie? In welch zynischem Euphemismus bin ich bloss gefangen?
Wer steckt hinter diesem gewalttätigen Umtreten?
Niemand weiss das genau. Diese Männer arbeiten im Untergrund. Die sind global vernetzt. Eine ganze Schatten-Industrie. Das Geschäft mit mir muss sich lohnen.
Sie sind also ein Opfer kapitalistischer Ausbeuterei.
Nicht nur das. Es ist der sprachliche Missbrauch. Die Leute verstehen nicht, dass sie mich jedes Mal, wenn sie mich als Metapher benutzen, der Gewalt aussetzen. Und die körperlichen Schmerzen sind dabei nicht einmal das Schlimmste. Es ist das, wofür ich für sie stehe: für Bedeutungslosigkeit. Für ihr absolutes Desinteresse.
Das ist schlimm.
In der Tat. Was ich daran aber nicht ganz verstehe: Was genau treiben die Leute in einem Artikel, wenn sie ihn doch so dermassen uninteressant finden? Und warum verraten sie durch ihren Kommentar auch noch allen, dass sie sich an jenem offensichtlich so beschämenden Ort aufgehalten haben?
Der Mensch ist ein wandelnder Widerspruch.
Schön für ihn. Wie ist das so, als wandelnder Widerspruch?
Nun, man spaziert durchs Leben und sagt etwas, tut aber was anderes. Man klickt auf den Artikel «9 Dinge, die aussehen wie Justin Biebers Oberlippenflaum» – völlig willenlos gemacht von der verführerischen Headline – und schreibt dann darunter, dass in China ...
... Bitte nicht!
Tschuldigung, ich vergass.
Ich werde also auf dem Altar der menschlichen Zwiespältigkeit geopfert. Womöglich spielt auch noch ein Quäntchen Selbsthass hinein? Das könnte ich sehr gut nachempfinden. Auch ich hege ab und an solche Gefühle mir selbst gegenüber.
Ihre Offenheit berührt uns sehr.
Das Herz ist schliesslich auch kein Tischtuch, das man vor jedermann ausbreitet.
Gut gesprochen. Wir waren bei Ihrer Kindheit, die keine war ...
Eher bei meinem Leben, das keines ist.
Sicher gab es aber auch in Ihrem einmal ein schönes Erlebnis?
Es gab da einen Mann. Er stellte sich immer hinter mich, sodass die anderen nicht auf seine Füsse sehen konnten. Dann machte er ein böses Gesicht und setzte zum Schlag an. Aber sein Schuh berührte mich kein einziges Mal. Irgendwann kam er nicht mehr.
Oh nein, das ist ...
Ja. Aber diese wohltuende Prügelpause hat ausgereicht, meine Hinterseite ist nach wie vor ziemlich hübsch anzusehen. Wollen sie eventuell mal einen Blick drauf werfen?
Sehr gern.
Die Interviewer gehen an die Rückseite des Reissackes. Die Worte «Wow» und «Nicht schlecht, Herr Specht!» fallen.
Der Specht hat's gut. Er ist nicht gefangen in einer negativen Metapher, er wird gerufen, wenn es jemanden zu würdigen gilt. Er ist Gegenstand der Verehrung, während meine gesamte Existenz einem gemeinschaftlich gewollten Vergessen gleichkommt.
Dann gibt es in Ihrem Leben neben diesem lieben, aber leider verschwundenen Mann keinerlei Aufsteller?
Wollen Sie Ihre Wortwahl vielleicht noch einmal überdenken?
Ja.
Im Grunde spielt es keine Rolle. Ich bin mir den bedenkenlosen Sprachgebrauch der Menschen ja mehr als gewohnt.
Aber abgesehen von Ihren äusseren Blessuren und Ihrer traumatisierten Seele sind Sie gesund?
Mein Herz ist umwölkt von den schwarzen Motten der Melancholie. Hunde pissen unermüdlich an meine geschundenen Nähte. In mir drin ist ein Gewürm, ein Gewimmel, mal gleiche ich eher einem Ameisenbau, dann wieder einem Termitenhügel. Ich ekle mich so vor mir selbst, dass ich mich gern in den Pöang-River werfen würde, wenn ich es denn könnte.
Könnten Sie das nicht für mich tun?
Ungern. Sie sind für unseren Sprachgebrauch ein unverzichtbares Sinnbild.
Ich bin aber nicht nur ein Sinnbild. Ich bin auch ein Sack. Mit 729'272 Reiskörnern. Das sind meine Zellen. Meine Kinder. Und mit jedem Schlag werden es ein paar weniger.
729'271. Versteh' ich das richtig – Sie wollen mich auch wissentlich weiterhin der Folter aussetzen?
Niemand spricht hier von Wollen. Nur ist das vielleicht einfach das unabdingbare Los eines jeden Lebewesens, dem die zweifelhafte Ehre zukommt, zu einem Sprichwort, einer Redewendung oder einer Metapher zu werden. Man denke nur an die armen Spatzen, auf die mit Kanonen geschossen wird. Oder den bemitleidenswerten Frosch im Hals. Haben Sie je auch nur einen einzigen Gedanken an das Kamel verschwendet, das sich durchs Nadelöhr hindurchzwängen muss?
Mensch betreibt also Whataboutismus, um jegliche Eigenverantwortung von sich zu weisen.
...
In die Stille hineinsingend: Ein toller Hecht möcht' ich sein, da wär' das Leben so fein ...
Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten alle Hoffnung fahren lassen?
Gewiss. Ich wollte Ihnen bloss eine Kostprobe meiner mustergültigen Stimme geben.
Wir waren bei Ihrem Leben als unverzichtbare Metapher ...
Sie meinen bei meiner durch Abermillionen speichelbenetzter Menschenzungen glatt geschliffenen, um jeden Reiz gebrachten Existenz.
Das haben Sie jetzt gesagt.
Mein Leben ist nicht viel mehr als eine Geschichte, die geschrieben wurde, weil sie gelesen wird. Und sie wird gelesen, weil sie geschrieben wurde. Das ist der Kreislauf meines schleichenden Todes. Die Leute meinen den Esel, schlagen aber den Sack. So war es schon immer und so wird es immer sein. Wenigstens hab ich so Teil an der Ewigkeit.
Die Tür geht auf. Es sind die Männer in den schwarzen Anzügen. Sie treten Fallum Gong. Und einen Moment lang sieht es so aus, als huschte ein Lächeln über sein weises Reissack-Gesicht. Vielleicht war es aber auch bloss eine neue Falte, die sich durch die Schläge gebildet hat.
Und dank unseres strahlenden IT-Helden Yannik Tschan, den wir an dieser Stelle überschwänglich erwähnen wollen. Er hat für diesen Artikel in den Untiefen der Kommentare gewühlt, um uns diesen Fundus an den Ihr-Wisst-Schon-Kommentaren bereitzustellen, von dem wir freilich nur einen Bruchteil verwendet haben.