«617, bist du anwesend?» Das war die Frage, die die kleine Ágota in der Schule als erstes beantworten musste. In dem System, in dem sie aufwuchs, war sie eine Zahl in der Kartei.
Und das System nannte sich Kommunismus.
Ágota kommt aus Transsilvanien, aus dem Land der Karpaten, wo auch Dracula einst sein Unwesen trieb. Als sie aber in einen regnerischen und frühen Morgen hineingeboren wird, lenkt ein Blutsauger ganz anderer Machart die Geschicke ihrer Heimat: der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu.
«Wir lebten in Rumänien, aber wir sind keine Rumänen», sagt Ágota. Ihr Vater pflegte stets zu sagen, sie seien eine saubere ungarische Szekler-Familie – alles andere wäre eine Schande.
Und diese saubere ungarische Familie hat wie alle anderen Menschen auf rumänischem Staatsgebiet von der Regierung Essensbons bekommen. Pro Person gab es ein Kilo Mehl, ein Kilo Zucker, vier Eier und ein halbes Kilo Fleisch pro Monat. Und in den 80ern gab es manchmal überhaupt kein Fleisch mehr, weil es gegen Devisen ins Ausland verkauft wurde. Ceaușescu wollte seine Auslandschulden loswerden. Und nebenher seinen grössenwahnsinnigen Palast des Volkes bauen.
«Natürlich haben meine Eltern so lügen gelernt!», ruft Ágota aus. Natürlich haben sie damit begonnen, heimlich Schweine zu schlachten. Dafür haben sie extra viel Lärm gemacht, dass niemand die Schreie des Tiers hören konnte. Ihr Vater machte sich dann erstmal mit dem toten Tier in der Kutsche auf bis zum verabredeten Übergabepunkt, wo der Onkel bereits in seinem Auto wartete. An diesem Wochenende durfte er seinen Wagen benutzen, sein Kennzeichen bestand aus einer geraden Zahl. Diejenigen mit den ungeraden Nummern mussten sich bis nächstes Wochenende gedulden. Es galt natürlich auch am Benzin zu sparen.
Der Onkel lud also das Fleisch in sein Auto und fuhr damit in die Stadt. Es war gefährlich. An jeder Ecke konnte man kontrolliert werden. «Sie konnten jederzeit kommen. Das war der grosse falsche Kommunismus», sagt Ágota. «Alles gehört allen.»
Sie kamen in schwarzen Wagen, die Spione, und manchmal haben sie jemanden aus Ágotas Block mitgenommen. Um fünf Uhr ging jeweils das Licht aus, da durfte man nur noch im Kerzenschein zusammensitzen. «Das Prozedere war immer gleich», erzählt Ágota.
«Es gab gefüllte Eier mit Sauerkraut und das Telefon wurde bedeckt mit Jacken, damit uns bloss niemand abhören kann. Auch Vorhänge mochten die Kommunisten nicht, immer wollten sie in die Wohnungen reinschauen. In unserem Badezimmer gab's kein Fenster, also haben sich meine Eltern mit ihren Freunden da reingesetzt und Brettspiele gespielt. An schlimmen Tagen haben sie das Wasser laufen lassen, das kalte selbstverständlich, warmes gab es nur jeden zweiten oder dritten Tag. Für zwei Stunden.
Dann endlich konnte man reden. Schnaps trinken und Witze machen. Diese bedrückte Stimmung, da konntest du nur mit Humor überleben.»
Im Dezember 1989 brach in Bukarest die Revolution aus. Ein letztes Mal stand Ceaușescu mit seiner Frau Elena auf dem Balkon des Zentralkomitees, doch zu seiner Überraschung kamen die 110'000 Menschen nicht aus Liebe zu ihrem Herrscher. An diesem Tag schlug dem «Genie der Karpaten» nichts als Verachtung entgegen. Der ganze Zorn eines über Jahre hungernden, frierenden und korrumpierten Volkes.
Auf den Strassen hagelt es Kugeln. Anfangs geht die Armee und die Securitate noch gegen die Aufständischen vor, doch als sie das ZK-Gebäude stürmen, schiesst niemand mehr. Ceaușescu und seine Frau versuchen noch im Hubschrauber zu fliehen, doch weit werden sie nicht kommen.
Auch in Ágotas Heimatstadt Csikszereda (ungarisch, auf rumänsich heisst sie Miercurea Ciuc) erheben sich die Leute, auch hier wird gekämpft. Und inmitten dieser Unruhen klingelt es plötzlich an der Tür der Familie. «Ich weiss noch, wie mein Vater meine Mutter angeschaut hat, bevor er hinunterging. Meine Mutter hat geheult, ich war vier Jahre alt, aber das habe ich nie vergessen. Wir dachten, wir würden ihn nicht mehr wiedersehen, wenn er zur Tür geht. Und dann kam er doch wieder hoch.»
Das war an Heiligabend. Einen Tag später, um 14.50 Uhr, wurden Ceaușescu und seine Gattin exekutiert.
Angst hat Ágota jetzt keine mehr. Und auch die Wut auf das ungerechte System ist allmählich verflogen. Geblieben ist einzig der in der Not geborene Erfindungsgeist. Seither fragt sie sich: «Wie kann ich das System austricksen? Danke dafür, Kommunismus.»
Mit 18 Jahren verlässt sie Rumänien, ganz allein macht sie sich auf in den Westen. Erst nach Deutschland, dann in die Schweiz, um Schauspiel an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zu studieren.
«Ich konnte keinen Mucks auf Deutsch. Ich hab' für die Aufnahmeprüfung einfach drei Monologe auswendig gelernt. Als ich sie vorgetragen hatte, sagte die Dozentin: ‹Aber Ágota, du bist doch eine Frau, warum sprichst du uns einen Männermonolog vor?› Und ich so: ‹Ja??›
Ich habe rein gar nichts verstanden. Und doch waren sie neugierig auf mich und haben mir gesagt, ich könne einen Probemonat lang alle Kurse an der Schule mitmachen.
Ich wohnte damals in Konstanz, weil ich mir in Zürich kein Zimmer leisten konnte. Also bin ich jeden Morgen kurz vor sechs Uhr losgeradelt zum Bahnhof. Und eines Tages hat ein Autofahrer die Tür geöffnet, ausgerechnet dann, als ich vorbeiflitzen wollte. Ich flog in hohem Bogen von meinem Velo, landete unsanft auf dem Pflaster und mein erster Gedanke war: ‹Ágota, wahrscheinlich bist du verletzt, aber das ist jetzt egal. Du hast nur diesen einen Monat, um dich zu beweisen.› Ich habe geackert.
Und als der Monat vorbei war, wurde ich mitten im Bewegungsunterricht rausgeschickt. Als ich wieder reinkam, waren alle Dozierenden da und sie haben geklatscht und ich habe geweint und noch immer nichts verstanden, aber ich wusste: Ich darf bleiben.»
Eigentlich sei sie dumm und naiv gewesen, sagt Ágota. «Was bedeutet es wohl, Schauspiel zu machen, ohne die Sprache zu beherrschen? Ich habe das nicht durchdacht. Und hätte ich es durchdacht, hätte ich es nie gemacht. Aber ich komme aus Rumänien. Erstmal rennen, dann überlegen.»
Aber zur Ruhe kommen konnte Ágota eigentlich noch nie. «Ich war ein hyperaktives Kind. Aber bei uns gab's kein Ritalin, bei uns gab's Schläge. Hat auch gewirkt. Hinterlässt einfach Spuren.»
Als sie das erste Mal in ihrem Leben wirklich wusste, was sie wollte, war sie 13 Jahre alt. Sie sass in der Schule und hatte einen dieser seltenen bewussten Momente, in denen einem plötzlich alles ganz klar vor Augen steht. Sie rannte nach Hause, riss die Tür auf und keuchte: «Ich hasse meine Schule. Ich will auf eine Theaterschule gehen!»
«Kind, du hast hier nichts zu melden», war die Antwort ihrer Eltern. Und Ágota fragte sich: «Warum habe ich nichts zu melden? Ich bin auch ein Mitglied dieser Familie. Ich spül' auch ab. Und ich dachte wie jedes 13-jährige Kind, dass ich schon fertig sei. Mein Bruder war ein Wunderkind, er konnte und durfte alles machen. Ich aber war ein Mädchen, und die einzige Hoffnung, die man in mich setzte, war die auf eine gute Heiratspartie.
Man hatte mich abgelehnt. Mich und meine Zukunft, die ich für mich beansprucht hatte. Also dachte ich: Wenn ich nicht Schauspielerin werden darf, dann sterb' ich lieber.»
Ágota zog los und kaufte sich die Medikamente, die ihre Grossmutter jeweils gegen ihren Bluthochdruck einnahm. Wenn die Pillen den hohen Puls «der Tyrannin» runterholen würde, dann würden sie ihr normales Blut quasi zum Stillstand bringen, überlegte Ágota, als sie 25 Stück davon schluckte. Und ihr Körper fuhr tatsächlich bedenklich runter. Die ganze Nacht war ihr schlecht.
«Am nächsten Tag blieb ich zuhause, meine Eltern gingen arbeiten. Irgendwann kam unsere Nachbarin herunter, sie hatte selbst keinen Fernseher, deshalb schaute sie sich ihre Serie bei uns an. ‹Wissen Sie was›, hab ich ihr dann gesagt, als sie sich aufs Sofa gesetzt hatte, ‹ich habe Tabletten genommen und werde bald sterben. Wenn meine Eltern nach Hause kommen, bin ich tot.›
‹Ágota, sagte sie, was für eine wundervolle Idee! Nur könntest du davor noch ein Stück Mohnkuchen mit mir essen? Daran ist schliesslich noch niemand gestorben.› Wir lachten beide und gingen hinauf in ihre Wohnung. Und als ich mich an den Tisch setzte und Kuchen ass, rief sie die Ambulanz.»
Ágota bekam, was sie wollte. Der Vater, krank vor Sorge, gab seinem jetzt ausgepumpten und entgifteten Mädchen die Erlaubnis, auf die Kunstschule zu gehen.
Sie hatte so hart dafür gekämpft und dann, Jahre später, während des Bewegungsunterrichts an der ZHdK in Zürich, kamen die Zweifel.
«Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ein Traktor über meine Seele fährt. Dieses ständige In-Sich-Gehen, das immerwährende Erspüren, das Entblössen. Ich hab fünf Jahre lang mein Zentrum gesucht. Ich habe es nie gefunden. Dafür hab' ich ein Magenbeschwür gekriegt. Und einen Brief von der Schweizer Regierung:
‹Frau Dimen›, stand darin, ‹Sie haben Ihren Zeitkredit aufgebraucht. Nun müssen Sie vorweisen können, dass Sie einen Job in Ihrer Branche haben, ansonsten bitten wir Sie, das Land zu verlassen.›
Ich hatte eben mein Studium beendet. Ich hatte schon eine Zimmerpflanze. Ich hatte Freunde hier. Sogar eine Knoblauchpresse hatte ich schon gekauft.»
Aber einen Job als Schauspielerin hatte Ágota nicht. Also trickste sie das System aus, wie sie ihre Strategie zu nennen pflegt: Als rumänische Staatsbürgerin hatte sie kein Bleiberecht in der Schweiz. Als Ungarin aber schon. Ihre Vorfahren sind Ungarn und als sie den Sprachtest in ihrer eigenen Muttersprache besteht, bekommt sie auch den ungarischen Pass.
Jetzt darf Ágota in der Schweiz bleiben. «Es ist absurd. Ich bin immer noch derselbe Mensch. Ich habe immer noch dieselben Eigenschaften. Aber jetzt habe ich die richtigen Papiere.»
Und weil Ágota sich so grauenhaft anstellt beim Networken, weil sie bei Premieren höchstens Kontakt zum Wein herstellt, hat sie dann erstmal damit begonnen, Lagerräume zu vermieten.
«Ich hab' Verträge abgeschlossen, indem ich nachdenklich dreingeschaut habe und mit dem Bürostuhl so nach hinten gelehnt bin. Ich hab sehr wichtigtuerisch Geschäfte gemacht. Für Lagerräume. Da ist dann wohl meine ganze Theaterausbildung hineingeflossen.»
Doch irgendwann spürte Ágota dieses leise Verlangen nach der Bühne wieder. Nur dieses Mal wollte sie etwas Eigenes machen. Allein arbeiten. Zuhause sitzen, nicht die Zähne putzen und auf dem Sofa ihre Geschichten schreiben. Heraus kam ein ganzes Comedy-Programm.
Und wenn sie einmal nicht schreibt, dann setzt sie ihren Freund dezent unter Druck, damit er ihr endlich einen Heiratsantrag macht. Denn Ágota ist altmodisch, ihn selbst zu fragen, das gehe nicht, schliesslich komme sie aus einer Familie randvoll mit katholischen Priestern.
«Wir sind schon drei Jahre zusammen. Das sind 1095 Tage und 7 Stunden. So langsam reicht's.»
Bis dahin macht sie einfach das, was sie von ihrer Grossmutter gelernt hat: «Immer geradeaus gehen, Richtung ... Kirchenturm.»