«Rührend!», «Ungewöhnlich!», «ein Akt der Solidarität». Derzeit geht eine Geschichte viral, die unsere Herzen erwärmen soll. In den sozialen Medien wird sie tausendfach geliked und weiterverbreitet.
Die deutsche «Bild»-Zeitung berichtete als erste über den Fall des 43-jährigen Jens Rösener, der für das Berliner Unternehmen MTS Systems arbeitet. Als sein 18-jähriger Sohn wegen einer Herzmuskelschwäche ins Spital muss, möchte er in dessen Nähe sein und nimmt sich frei.
Dem Sohn geht es schlecht, ihm wird ein Defibrillator in die Brust implantiert und er wird in eine Spezialklinik nach Heidelberg verlegt. Der Vater übernachtet in einem Wohnwagen auf einem nahe gelegenen Campingplatz, um immer bei seinem Sohn zu sein.
Doch irgendwann sind die Ferientage von Rösener aufgebraucht und seine Überstunden abgebaut. Er bittet seinen Chef um unbezahlten Urlaub. Doch dieser hat eine bessere Idee.
Der Chef schreibt eine Rundmail an alle seine Mitarbeiter und bittet diese, ihre Überstunden zu spenden: «Wenn schreckliche Dinge im Leben geschehen, muss man als Team ein wenig zusammenrücken und sich gegenseitig helfen», heisst es in der E-Mail.
Die «Bild» schreibt, die Resonanz der 110 Mitarbeiter sei überwältigend gewesen: Innerhalb von acht Tagen seien 930 Stunden und damit 116 Arbeitstage zusammengekommen. Stolz sagt der Chef, auch er habe einige Überstunden gespendet.
Der Vater darf nun seinem Sohn beistehen, bis dieser ein Spenderherz gefunden hat und wieder genesen ist – falls die Überstunden der Kollegen bis dahin ausreichen.
Eine Geschichte mit Happy End also?
Ganz und gar nicht! Vielmehr ist es erschreckend, dass diese Begebenheit im Netz als Good News verbucht wird. «Rührend» oder «ungewöhnlich» wäre es, wenn der Chef dem Vater bedingungslos beigestanden wäre und ihn sofort und solange nötig von der Arbeit freigestellt hätte.
Ein zusätzlicher «Akt der Solidarität» wäre es gewesen, wenn der Chef den Ausfall des Lohnes des Vaters aus der Firmenkasse bezahlt hätte. Doch die Mitarbeiter auf die Probe stellen, deren erarbeitete Überstunden abzwacken und um deren Loyalität zu bitten? Befremdlich.
Wie es um das Gewissen des modernen Angestellten steht, wenn es darum geht, von der Arbeit fernzubleiben, zeigte kürzlich auch ein Artikel in der Pendlerzeitung «20Minuten». «Krank arbeiten wäre für viele eine Erleichterung», wurde getitelt. Urheber des Zitats war Silvan Winkler, Arbeitspsychologe beim Marktforschungsinstitut Gfk Schweiz.
Im Interview plädierte er dafür, dass ein kranker Angestellter auch von zu Hause aus weiterarbeiten könne, solange dies seine Gesundheit zulasse. Denn: «Viele plagt ein schlechtes Gewissen, wenn sie nicht arbeiten, sich aber fit genug für einfache Tätigkeiten von zu Hause aus fühlen.»
Das ist krank.
In einem Unternehmen die Kultur zu schaffen, es sei nicht in Ordnung, krank zu sein, weil man unersetzbar ist, weil sich die Mails anstauen, sich die Arbeit verzögert, weil alles zusammenbrechen könnte, ist ungesund. Und macht krank.
In der Schweiz ist knapp ein Viertel aller Erwerbstätigen erschöpft. Das geht aus einer Studie der Gesundheitsförderung Schweiz hervor. Rund sechs Prozent aller Arbeitnehmenden sind sogar so stark belastet, dass sie am Rande eines Burnouts stehen.
Hören wir also auf, uns schlecht zu fühlen, wenn wir aus legitimen Gründen von der Arbeit fernbleiben müssen. Sei es, weil ein lieber Mensch gestorben ist, ein Kind krank ist oder man morgens mit Bauchschmerzen aufsteht. Wir haben Rechte. Eines davon ist, dass wir neben unserer Arbeit auch noch ein Leben haben dürfen. Bestehen wir darauf und bleiben wir gesund.