Es war die monumentale Erkenntnis eines glitzernden Augenblicks! Eine neue Heiligkeit überkam uns: Autorendasein – that’s the shit! Damit kriegt man die aufregendsten Girls, dachte ich. Schreiben is the shit! Vielleicht die heisseste Sache auf der Welt. Da können selbst Rockstars einpacken. Gibt es etwas Grösseres als ein Tom-Wolfe-Dasein in den 1960er-Jahren?
Jede seiner Wortsalven brannte sich in meinem Teenager-Hirn fest. So will ich auch schreiben! Eine neue Erlebnisform. Eine freie Form, die reine Oberfläche: Ein bonbonfarbenes tangerinrot-gespritztes Stromlinienbaby. So waren seine Texte: hip, dandyhaft, blitzgescheite Beobachtungen von Subkulturen und unserer Gesellschaft. Und damit waren noch ganz andere Erkenntnisse verbunden, die mein Herz beflügelten: «Wir kamen langsam hoch ... als ob wir nicht mehr zur Aussenwelt gehörten ... wie Schwimmende in einem schattigen Traum ... die nicht zu Atmen brauchten ...» So schrieb dieser coole Hund.
Aber halt? Dieser Mann im weissen Dandy-Anzug, der jetzt, in diesem unfassbaren Augenblick, Sommer 1986, im strahlend Anzug vor mir an einer Bar im Pan American Airline Terminal in New York steht, ist nicht nur ein Popheld, sondern auch Journalist. Journalist? Journalisten sind doch diese Null-Typen in weiten Cordhosen, im Tweedsakko und vielleicht noch mit Jesuslatschen.
Schau dir diese Hemden an, diesen verdammten Anzug, den Hut. Ein einziger grosser durchgeknallter Witz (und natürlich in erster Linie Zeichen seiner Südstaaten-Herkunft). Seinen Hemden sieht man förmlich an, wie das heisse Bügeleisen auf die Baumwolle gepresst wurde. Der Geruch von Dampf und Bleichmittel steigt hoch, das Leben erstarrt in perfekter weisser Steifheit, huhuhuh!!!! Das muss so sein, Schwachkopf, damit das amerikanische Blut darauf umso schöner leuchten kann! Päng!!!!
Dieser Amerikaner schreibt durchgeknallte, sarkastische, abgehobene Bilder. Kitschig-bewusst! Low Camp! High Camp! Brutal sarkastisch, banal, leer, vulgär – eine geile Freude. Und er ist nicht ganz allein. Da sind noch eine Handvoll andere Pop-Götter. Joan Didion, Hunter S. Thompson und Truman Capote. Sowas musst du lesen, Günter Grass! New Journalism, Baby!
Schaut euch doch einfach seine Schuhe an, die glänzen als ob er sie bei Tiffany’s gekauft hätte. Da steckt die ganze Philosophie drin, der Hochglanz, die perfekte Oberfläche, das perfekte politische Bewusstsein: Ästhetik gleich Ethik. Was denn sonst? Ich trage damals glänzende Doc Martens, Made in England, mein kahlgeschorener Schädel glänzt, repräsentiere das neue journalistische Deutschland mit korrekter Mod-Jacke und stahlblauen Jeans. Und wie schreibt so einer in den 80er-Jahren?
«Fuck! Fuck! Fuck! – Morgen reisse ich so einer Spiessersau einfach die Ohren aus!»
Die starre Trennung von U- und E-Kultur wird nicht mehr respektiert, die Trennung von Oberflächlichem und Tiefsinnigem, von Alltagskultur und Bildungsgut: Damit ist jetzt Schluss. Eher den Spass am Trivialen kultivieren und narzisstisch unser Ich beobachten. Die Charakteristika von New Journalism: Der Alltagskultur wird eine semiotische Qualität zugesprochen und aus den Materialien der Popkultur werden Zeitdiagnosen abgeleitet. So scharf hat das noch keiner geschafft.
Wolfe ist der erste Autor, dem eine hysterisch beschwörende Beschreibung von Kleidermarken und genial abfällige Bemerkungen über die Vernachlässigung von Herrensocken gelingen – eine bezaubernde Form des Snobismus und eine Fetischisierung der Dingwelt. Später werden ihn viele kopieren und sich Pop-Literaten nennen. Und auch das findet Wolfe genau richtig. Den Geniekult in der Literatur hält er für lächerlich. Die Kunst des Recyclings setzt er selbst in seinem Frühwerk ein. Er erklärt die Welt immer über das Äussere und ist damit ganz tief hinab in die amerikanische Seele gestiegen.
Bitte schreib ein Tom-Wolfe-Interview, flehten mich damals meine Chefs an. Wie bitte? Interview, das ist doch diese unterste Stufe von Hofberichterstattung. Reportage, Baby!! Ich! Ich! Ich! Heilige Subjektivität. New Journalism ist wegen der extremen Subjektivität ehrlich, lernten wir von Tom Wolfe. Der traditionelle Journalismus beharrt auf einer Objektivität, die es nicht gibt.
Journalisten sind Menschen. Menschen haben Meinungen. Menschen haben Antipathien. Menschen haben auch mal schlecht gefrühstückt. Oder sind kriminell. Oder knallen beim Schreiben die Nase mit Kokain voll, die Ohren mit Musik. Sie haben am Vorabend vielleicht zu viel guten Sex gehabt. Es gibt keine objektiven Menschen, deshalb gibt es auch keinen objektiven Journalismus. Die einen geben das zu, die anderen nicht.
Also hinein in den New Journalism! Schliesslich schreibe ich damals für ein Magazin namens «Tempo». Zusammen mit späteren Pop-Literaten wie Maxim Biller, Christian Kracht, Rainald Goetz oder Benjamin von Stuckrad-Barre. Was wollen wir von Tom Wolfe übernehmen? Einfach alles, um die alten Langweiler beim «Spiegel», «Stern», der NZZ oder dem «Tages-Anzeiger» zu vernichten!
Und wie beginnt so eine Tom-Wolfe-Story? «AAAAaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhh!!!! Alle diese Regentropfen sind high oder so was ähnliches. Sie rollen nicht senkrecht am Fenster herab, sondern fliegen vertikal zum Heck hin, sie wabbeln gleich apathischen Kokainsüchtigen, die wie auf Schaumgummi gehen. Das Flugzeug rollt zur Startbahn und dieses blöde Wasser mit Infarkt wabbelt seitlich über das Fenster weg. Phil Spector, dreiundzwanzig Jahre alt, der Rock and Roll-Magnat, Produzent von Phillies Records, Amerikas erster Teenager-Tykoon, beobachtet ... diese wässrige Pathologie ... Krank, todkrank!!!»
Ob Wolfe auf Kokain war, ist auch den Machern des «Esquire»-Magazin völlig egal, als sie diese Story drucken. Es ist ihnen auch egal, ob das wahr ist, was sich in Wolfes Storys abspielt. Es ist DIE WAHRHEIT. Oder wie hatte es Adorno gesagt: «Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.» Journalismus als Heuchelei entblössen. Als Betrug! Tom Wolfe führt uns in eine neue journalistische Galaxie ein, die heute nicht mehr existieren darf.
Ab Mitte der 1980er-Jahre entwickle ich mich bei «Tempo» zum idealtypischen Vertreter eines radikal subjektiven Journalismus – natürlich wie bei Tom Wolfe mit allen Risiken und Nebenwirkungen für die Glaubwürdigkeit und den Seriositätsappeal des Gewerbes, dominiert von der Präsenz des Autors. Vor allem 20- bis 30-Jährige sollen es sein, die unsere Texte lesen, wie damals bei Tom Wolfe in den 60er- und 70er-Jahren, die Nach-Beat-Generation, geprägt von der Geburt der Jugendkultur, der Pop Art, Vietnam und wahnsinniger neuer Musik, ohne festes Weltbild, nirgendwo ganz beheimatet und in der Kommentierung des Bestehenden stets seltsam ambivalent.
Diese Generation, so habe ich es damals verstanden, kennt keine «Wahrheit» und kein «Ideal» und gleichzeitig viel zu viele Wahrheiten und Ideale. Ihr fehlt es an einer fixierbaren Identität.
Die Programmatik von Tom Wolfe zeichnet sich durch eine robuste Abgrenzung von den etablierten Medien und durch ein klar konturiertes Feindbild aus. Wirklichkeit, Wahrheit und Objektivität sind längst ein reiner Mythos. Die einzig taugliche Methode diesen Pseudo-Wahrheitsanspruch der Mächtigen als Lüge zu überführen, sind unter vielen Dingen ein exzessiver Formalismus.
Tom Wolfe beginnt logischerweise seine erste Story für den «Rolling Stone» über Las Vegas mit dem Titel: «(WAS?) LAS VEGAS (VERSTEH NICHTS! ZU LAUT!) LAS VEGAS!!!» Und dann geht’s erst richtig los: «Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie ... Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, HERnie, HERnie, HERnie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie ... Hernie, Hernie, die Acht, die Acht, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, Hernie, setz alles auf die Acht, Hernie, Hernie, Hernie, WAS HEISST HIER HERNIE HERNIE?»
Sowas wird sogar in den Edelblättern gedruckt. Weil da eben einer wie Tom Wolfe was begriffen hat: Der Journalist – dieser scheinbar neutrale Beobachter – verwandelt sich zum Teilnehmer, er partizipiert und funktioniert als Filter der Weltwahrnehmung.
Dabei kann Tom Wolfes Variante des New Journalism auch immer als praktizierte Medienkritik gelesen werden und ist in unserer pseudomoralischen Mediengegenwart relevanter als nie zuvor. Ironischer wurde die Bedeutungshoheit der sogenannten Vierten Gewalt und die Pseudo-Relevanz-Hierarchien des klassischen Nachrichtengeschäfts noch nie unterwandert – bis Bad Boy Kummer seine Star-Interviews erfand
Für Tom Wolfe wurde sogar ein neues Genre erfunden: Non-Fiction-Novel soll es heissen. Faction – diese Mischung aus Fakten und Fiction. Und schliesslich: Pop-Literatur. Wolfes erstes Werk «The Elektric Kool-Aid Acid Test» war fortan die Bibel dieses neuen Genres – jener Trip mit den Hippies um den Künstler und Schriftsteller Ken Kesey 1964. Eine Fahrt in einem bunten Bus quer durch die USA, um die Welt mit LSD, lauter Musik und guter Laune zu verbessern.
Subjektiver Journalismus ist hier nicht mehr nur Methode der Darstellung und nicht mehr nur Form der Präsentation, sondern auch gleichzeitig die zentrale Botschaft.
So schenkte mir Tom Wolfe den Mut schon in meinen ersten Texten über mich selbst zu berichten – sowas gab es damals im deutschsprachigen Printmedien noch nicht oft. Es erlaubte mir, in Reportagen eine unglückliche Liebe zu beschreiben, die eigenen Kokainerfahrungen zu analysieren, von den eigenen Versagensängsten zu erzählen, von Einsamkeit, Wut und Sehnsucht, alles ganz persönlicher Scheiss, gleichwohl besitzen die Texte eine über mich selbst hinausweisende Brisanz.
Damit stellt sich die Frage, warum es Geschichten gibt, die (vordergründig) nur von einem einzelnen Journalisten handeln, aber die doch für zahlreiche Leser von Interesse sind. Eine mögliche Antwort lautet: Was hier verhandelt wird, besitzt eine spezifische Form der archetypische Aktualität. Das heisst: Die Texte handeln vordergründig nur von einem Einzelnen und seinen ganz ureigenen, seinen privaten Erfahrungen – und hintergründig doch immer auch von der Begegnung mit dem Unbekannten, dem Fremden, von Siegern und Verlierern und von der Möglichkeit eines anderen, wilderen Lebens, das sich nicht in gängige Raster einpassen lässt. Archetypisch aktuell heisst es auch bei Tom Wolfe immer: Es werden Grundfragen menschlicher Existenz zum Thema.
New Journalism ist also auch ein anderes Wort für Entheuchelung und bedeute eigentlich nur, in einer verlogenen, korrupten und intriganten Welt nicht ständig so zu tun, als käme der Reporter von einem anderen Stern.
1984 veröffentlicht Tom Wolfe mit «Fegefeuer der Eitelkeit» seinen grossen Bestseller. Eine irre Untergangsreportage über das New York der 80er-Jahre, ein grossartiger Gesellschaftsroman seiner Zeit. Er verwandelt sich in den höchstdotierten Autor Amerikas und auch ein bisschen zum Arschloch. Aber wir verzeihen ihm. Er gilt als Gesellschafts- und Zeitdiagnostiker, der für jedes Jahrzehnt das passende literarische Sittengemälde liefert. Doch was für ein Tom Wolfe war das noch? In einem Spiegel-Interview sagt er 1999 plötzlich unfassbar wirres Zeug, das nach Reaganomics klingt:
«Ich bin völlig für die Neureichen. Deren Erfolg bedeutet doch nur: Ich kann das auch schaffen. Wenn Geld so neu sein darf, habe ich auch eine Chance, welches zu verdienen. Mein Gott, es ist doch schön, dass es so viel Geld da draussen gibt ...»
Und wieso die Anzüge? Haben Sie das geplant? «Ich bin in Virginia geboren, und es ist durchaus nichts Anstössiges, dort unten im Süden im Sommer mit einem weissen Leinenanzug herumzulaufen. Als ich Anfang der 60er-Jahre nach New York zog, hatte ich mir gerade einen schneidern lassen. Dummerweise aus einem etwas festeren Material. Deshalb begann ich, ihn im Winter zu tragen. Die Leute sahen mich, wurden wütend und schrien mich an. Das hat mir gefallen, ich wurde also erkannt, und seitdem hat dieser Anzug für mich gearbeitet. Ich stelle mich hin, die Leute reden auf mich ein, ich sage fast überhaupt nichts, und am Ende eilen sie zu ihren Bekannten und berichten: ‹Dieser Tom Wolfe ist schon ein unglaublich interessanter Mann.› Dieser Anzug spart also Zeit und Mühe.»
Bei Tom Wolfe schlug der Alterskonservatismus ziemlich heftig ein. Dass er Mitte der 60er-Jahre den Journalismus revolutionierte und den so genannten New Journalism erfindet, kommt ihm heute komisch vor. Er habe das nie bewusst vorgehabt.
«Es war ganz einfach so, dass ich für eine Zeitungsbeilage arbeitete, und es liegt nun mal in der Natur dieser Beilagen, dass sie kein Mensch wirklich braucht. Sie sind wie Süssigkeiten für das Gehirn, und wenn man sie in den Papierkorb wirft, muss man das nicht bedauern. Dort wollte ich aber nicht enden. Also musste ich etwas unternehmen, um die Leser zu bekommen. Ich setzte mich hin und schrieb zum Beispiel das Wort ‹Blinddarm› 57-mal an den Anfang eines Artikels – nur damit die Leute dazu verdammt waren weiterzulesen!»
Tom Kummer lebt in Bern und schreibt an seinem nächsten Roman. Er ist Tom Wolfe 1986 tatsächlich am Flughafen in New York begegnet.