Die beiden sind zwei komplett verschlumpfte Vögel. Jeder auf seine Art eine unglaubliche Nervensäge. Benji (Kieran Culkin), weil er mit einer hyperaktiven Sensibilität durch die Welt geht und zugleich total leutselig und mitfühlend, aber auch eine irre Problematisier-Maschine ist. Und sein gleichaltriger Cousin David (Jesse Eisenberg), weil er ein ungemein verklemmter Zeitgenosse ist, immer darauf bedacht, das Richtige zu sagen und zu tun. Der eine kifft, der andere nimmt Pillen gegen seine Angststörung. Und irgendwo hat sich in ihrer DNA ein diffuser, ein grundsätzlicher Schmerz eingenistet, den sie nicht benennen können.
Sie wissen bloss, dass der Schmerz, the pain, den sie fühlen, mit ihrer Grossmutter zu tun hat, die vor einem halben Jahr verstorben ist. Sie war eine polnische Jüdin, eine Holocaust-Überlebende, die sich in Amerika eine neue Existenz aufgebaut hat. Sie war auch Benjis Anker in der Welt, noch immer wohnt er in ihrem Haus. Was genau sie ihren Enkeln über das Grauen des Zweiten Weltkriegs erzählt hat, erfahren wir nicht, möglicherweise nichts, doch sie hat ihnen das Überleben vorgelebt, mit Kraft, Stolz und einer bodenständigen Härte.
Und so begeben sich David und Benji auf eine Grossmutter-Erinnerungs-Gruppenreise nach Polen. Auf einen Holocaust-Trip oder, etwas netter, eine «Heritage Tour», KZ-Besuch inklusive. «Dies wird eine Reise über Schmerz», sagt der Tourguide, ein beflissener junger Akademiker (Will Sharp aus «The White Lotus») und selbst kein Jude, zu seiner jüdischen Reisegruppe und referiert eifrig Wikipedia-Inhalte.
Die beiden Cousins sind dabei so unwissend und naiv, wie man angesichts der Geschichte nur sein kann, David ist mit seiner jungen Familie und dem Platzieren von Werbung in Online-Medien ausgelastet, Benji mit sich selbst. Für die Vergangenheitsbewältigung muss eine Woche reichen, die Banalisierung und gleichzeitige Instant-Emotionalisierung der Geschichte, die wir hier sehen, dürfte für Amerikaner ihrer Generation ziemlich realistisch sein.
Die Fragen, die sich die beiden stellen, kommen aus dem Bauch und sind immer ein bisschen peinlich. Benji findet es ekelhaft dekadent, als Jude in der ersten Klasse durch Polen zu fahren, wo seine Vorfahren doch in Viehwagen gepfercht ins KZ transportiert wurden. Und David versteht nicht, wieso Benji nach dem Tod der Grossmutter einen Suizidversuch unternehmen konnte, wo die Grossmutter ihnen doch immer gezeigt hat, wie kostbar ihr durch «tausend Wunder» gerettetes Leben war.
Kann man so über den Holocaust reden? Wieso nicht? Jesse Eisenberg hat das Drehbuch zu «A Real Pain» geschrieben und Regie geführt und zeigt einen Versuch seiner Generation, mit der Geschichte umzugehen, die schon fast nicht mehr die ihre ist. Eisenbergs Eltern stammen beide von emigrierten polnischen Familien ab. Seine Grossmutterfigur setzte er aus seiner polnischen Grosstante zusammen, die 1938 in die USA geflüchtet und dort 107 Jahre alt geworden war. Und aus seiner polnischen Cousine, dem letzten Mitglied der Eisenbergs, das noch in der alten Heimat lebt.
Er gewann die polnische Produzentin Ewa Puszczynska, die bereits Jonathan Glazers aussergewöhnlichen Oscar-Gewinner «The Zone Of Interest» produziert hatte und eine Spezialistin für experimentellere Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Holocausts ist. Und er beschloss, seinen Film mit heiteren Stücken des polnischen Komponisten Frédéric Chopin zu unterlegen. Gedreht wurde an Originalschauplätzen, etwa im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin-Majdanek, die Informationen, die im Film dazu erzählt werden, sind geradezu lakonisch, die Tränen, die Benji darüber vergiesst, dafür umso herzzerreissender.
Eisenberg hat sich in seinem scheinbar leichten, aber in Wirklichkeit minutiös durchdachten Regie-Debüt für die Komödie entschieden: Die nimmermüden Wortgefechte zwischen Benji und David sind irre kleine Feuerwerke, sind bei aller Egozentrik der Figuren entwaffnend selbstironisch, vieles wurde beim Dreh von Culkin improvisiert (sehr zum Leidwesen des überkorrekten Eisenberg, die beiden haben viel mit ihren Figuren gemeinsam). «Succession»-Star Culkin ist es auch, der das allzu schnell schlagende Herz des Films bildet. Und der jetzt allen Ruhm einheimst. «Es wäre ein Schock, wenn Kieran Culkin keinen Oscar gewinnen würde», schreibt die BBC in ihren Oscarprognosen (einen Nebendarsteller-Golden-Globe hat er schon) und nennt den ganzen Film «frisch» und «erhaben». Eisenberg dürfte mindestens für sein Drehbuch eine Nomination erhalten.
Man kann nicht allzu viel schreiben über diesen Film, man muss ihn sehen und dann zum lachenden, weinenden Krümel werden. Vielleicht noch dies: Am Ende fragt es sich, ob Benji und David wirklich etwas gelernt haben. Ob ihr Schmerz nun kleiner oder nicht noch viel grösser geworden ist. Und ob der ehrlichste Ort, um die eigene Verlorenheit auszuhalten und zu zelebrieren, nicht die Wartehalle eines Flughafens ist.
«A Real Pain» läuft jetzt im Kino.