Keine andere Schweizer Publikation erreicht auch nur annähernd eine solche Auflage: Das Abstimmungsbüchlein des Bundes wird – zusammen mit den Stimmzetteln – jeweils an rund 5,5 Millionen Stimmberechtigte verschickt. Dafür braucht es 221 Tonnen-Papier.
Seit 1977 wird das «Bundesbüchlein» vor jedem Urnengang verschickt. Die Aargauer Zeitung nennt es ein «Symbol für die demokratischen Mitspracherechte» mit hoher Glaubwürdigkeit. Für den «Tages-Anzeiger» ist das rote Heftlein die «Wahrheit, gedruckt».
Doch sind diese Lobeshymnen gerechtfertigt? Nicht für die Gegner des Sozialdetektive-Gesetzes, das am 25. November an die Urne kommt. «Der Bundesrat ist dabei, 5,5 Millionen Stimmbürger willentlich falsch zu informieren», sagte SP-Politiker Dimitri Rougy vom Referendumskomitee am Dienstag im Tages-Anzeiger.
Der Bundesrat verharmlose die Folgen der Gesetzesänderung. Entgegen dessen Erläuterungen seien dem Einsatz von technischen Hilfsmitteln keine Grenzen gesetzt. Und die Schlaf- und Wohnzimmer von Versicherten seien für Sozialdetektive keinesfalls tabu: «Die Auslegungen des Bundesrats sind unzulässig», so Rougy.
Letzte Woche baten er und seine Mitstreiter die Bundeskanzlei um eine Überarbeitung. Weil das Heft bereits gedruckt worden ist, hat das Referendumskomitee nun beim Zürcher Regierungsrat Abstimmungsbeschwerde eingereicht. Dessen Entscheid wird nächste Woche erwartet. Fällt er negativ aus, wollen Rougy und seine Mitstreiter ans Bundesgericht gelangen. Erhalten sie dort Recht, droht sogar eine Verschiebung der Abstimmung.
Ursula Eggenberger von der Bundeskanzlei weist Rougys Kritik zurück. Der Bundesrat habe die gesetzlichen Vorgaben erfüllt und in seinen Erläuterungen die Grundsätze der Vollständigkeit, Sachlichkeit, Transparenz und Verhältnismässigkeit beachtet.
Der Krach zeigt, dass der Inhalt des «Bundesbüchleins» ein Politikum ist. Aus gutem Grund: Laut wissenschaftlichen Analysen ziehen in der Regel mindestens 80 Prozent der Stimmenden beim Ausfüllen des Stimmzettel das rote Heftlein bei.
Der Umfang des Abstimmungsbüchlein variiert je nach Art und Anzahl der Vorlagen, die zur Abstimmung kommen. Beim jüngsten Urnengang vom 23. September waren es in der deutschen Fassung 40 Seiten.
Zu jeder Vorlage gibt es vier Teile: Das Kapitel «In Kürze» fasst die wichtigsten Punkte zusammen, «Im Detail» umfasst Hintergründe, Ziele und Massnahmen. Unter «Argumente» kommen der Bundesrat und die gegnerische Seite auf je maximal 1,5 Seiten zu Wort. Und zuletzt ist der Gesetzes- oder Verfassungstext, über den abgestimmt wird, vollständig abgedruckt. Das Abstimmungsbüchlein erscheint in allen vier Landessprachen.
Wenn feststeht, welche Vorlagen demnächst an die Urne kommen, fertigt das zuständige Departement einen ersten Vorentwurf an. Dieser wird dann gemäss NZZ während drei Sitzungen intensiv diskutiert. Anwesend dabei sind Vertreter des zuständigen Bundesamtes, ein Kommunikationsexperte des Departements sowie Mitarbeiter der Bundeskanzlei und der Sprachdienste, welche für die Übersetzung zuständig sind.
Die Runde versucht, auf die kontroversen Punkte und naheliegende Fragen des kommenden Abstimmungskampfes einzugehen. Der so entstandene zweite Entwurf erhält dann einen sprachlichen Feinschliff – und landet auf dem Pult des zuständigen Bundesrats. Hat er oder sie noch Änderungswünsche, wird der Text nochmals überarbeitet. Dann kommt er zur Diskussion in den Gesamtbundesrat. Dort wird laut NZZ auch mal 45 Minuten über einzelne Passagen diskutiert, bevor die endgültige Version verabschiedet wird.
Es folgen Layout, Druck, Auslieferung an die Kantone und dort der Versand an die Stimmbürger. Sechs Wochen vor der Abstimmung ist das Bundesbüchlein online verfügbar, drei bis vier Wochen vor dem Urnengang landet es in den Briefkästen.
Laut Gesetz muss der Bundesrat in seinen Erläuterungen «auch den Auffassungen wesentlicher Minderheiten Rechnung tragen». Bei Volksinitiativen und fakultativen Referenden teilen die Komitees ihre Argumente dem Bundesrat mit. «Die Komitees können so einen Text von maximal eineinhalb Seiten einreichen», erläutert Ursula Eggenberger von der Bundeskanzlei. «Darüber hinaus haben Komitees aber keinen Anspruch auf eine Mitwirkung an den Abstimmungserläuterungen des Bundesrates.» Die Gegner des Sozialdetektive-Gesetzes haben die in ihren Augen fehlerhaften Passagen des Bundesrates also nicht im Voraus zu Gesicht bekommen.
Bevor Bundesrat und Parlament eine spätere Abstimmungsvorlage behandeln, nehmen die Experten der zuständigen Departemente und Bundesämter bereits «umfassende juristische und ökonomische Abklärungen» vor, heisst es bei der Bundeskanzlei.
Bei der endgültigen Version der Erläuterungen muss der Bundesrat wie schon erwähnt die Grundsätze der Vollständigkeit, Sachlichkeit, Transparenz und Verhältnismässigkeit beachten. So will es das Gesetz. Die Fakten im Büchlein müssen gemäss NZZ verifizierbar und belegt sein. Der Bundesrat dürfe seine Argumente zwar zugespitzt formulieren, Übertreibungen seien aber unzulässig.
Vor der Verabschiedung durch den Bundesrat ist das Abstimmungsbüchlein nicht öffentlich einsehbar. Nach der Veröffentlichung kann man beim Wohnkanton eine Stimmrechtsbeschwerde einlegen und eine Annullierung der Abstimmung beantragen. Wird die Beschwerde abgelehnt, kann das Bundesgericht angerufen werden. Seit 2007 besteht dort die Möglichkeit, eine allfällige Verletzung der «freien Willensbildung» überprüfen zu lassen. Diese ist von der Bundesverfassung als Teil der politischen Rechte geschützt. Seither wird diese Möglichkeit gemäss Tages-Anzeiger vermehrt eingesetzt.
Ja. In seinen Erläuterungen zur der Heiratsstrafe-Initiative der CVP schrieb der Bundesrat 2016, es seien bloss 80’000 verheiratete und eingetragene Paare von der Heiratsstrafe betroffen. Im Juni 2018 musste der Bundesrat einräumen, dass tatsächlich rund 454‘000 Ehepaare und eingetragene Partnerschaften betroffen sind. Grund war ein Fehler bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV). Die CVP reichte in acht Kantonen Beschwerde ein. Weil sie abgewiesen wurden, ist sie nun vor Bundesgericht gelangt. Ein Urteil ist noch ausstehend.
Schon 2008 war dem Bundesrat bei seinen Erläuterungen zur Unternehmenssteuerreform (USR) II ein Fehler unterlaufen. «Die finanziellen Auswirkungen der Reform sind im Vergleich zum gesamten Haushalt des Bundes gering», schrieb er damals. 2011 musste er einräumen, dass die Reform wiederkehrende Steuerausfälle von jährlich 500 Millionen Franken verursacht. Es kam zu einer Stimmrechtsbeschwerde. Das Bundesgericht rügte bei deren Beratung den Bundesrat. Die Erläuterungen im Abstimmungsbüchlein seien weder vollständig noch sachlich gewesen. Die Richter äusserten «ernsthafte Zweifel», ob die Stimmberechtigten damals «ihre Meinung in Kenntnis der richtigen Sachlage haben bilden können».
Trotzdem erklärte das Gericht die Abstimmung für gültig. Es verwies unter anderem auf die bei einer Annullierung drohende Rechtsunsicherheit: Die USR II sei bereits in Kraft und zahlreiche Unternehmen seien davon betroffen.
Die Hürden für eine gerichtliche Annullierung oder Verschiebung von Volksabstimmungen sind also hoch. Keine guten Aussichten für die Sozialdetektive-Gegner rund um Dimitri Rougy.