Zwei nationale Themen kommen am 24. September zur Abstimmung. Die Rentenreform ist von grosser Tragweite und sorgt für rote Köpfe. Das andere Traktandum auf dem Stimmzettel hingegen findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit stösst auf keine nennenswerte Opposition und somit auf wenig Beachtung.
Das Parlament hat ihn als Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative erarbeitet, für die der Schweizerische Bauernverband 2014 in nur drei Monaten 150'000 Unterschriften gesammelt hatte. Die Initiative war so formuliert, dass man sie kaum ablehnen konnte. Der Verfassungsartikel wurde noch weiter «entschärft», weshalb nur 9 der 246 Bundesparlamentarier Nein sagten.
An sich steckt im Thema Ernährungssicherheit durchaus eine gewisse Brisanz. Die Schweiz muss rund die Hälfte ihrer Nahrungsmittel aus dem Ausland importieren. 2016 sank der so genannte Netto-Selbstversorgungsgrad – ohne importierte Futtermittel – laut dem Bauernverband auf 48 Prozent. Über die Förderung der heimischen Produktion liesse sich somit durchaus diskutieren.
Der Verfassungsartikel mit seinen fünf Punkten ist jedoch dermassen unverbindlich ausgefallen, dass niemand sich aktiv dagegen engagieren will. Selbst die Kritiker der Landwirtschaftspolitik im Parlament sprechen sich überwiegend für ein Ja aus. Dennoch lanciert der Bauernverband eine Plakat- und Inseratekampagne. Denn es geht um die Deutungshoheit nach der Abstimmung.
Je unverbindlicher eine Vorlage, desto mehr lässt sich hinein interpretieren. Genau dies geschieht bei der Ernährungssicherheit. Gleich zwei Ja-Komitees haben sich gebildet, die bedingt kompatibel sind. Dem Komitee des Bauernverbands gehören Politiker von SVP, CVP und BDP an, seinen verlässlichsten Verbündeten in Bundesbern. Das Mitte-Links-Spektrum hat sich in einem Bündnis unter Führung der Grünliberalen formiert, das am Dienstag vor die Medien tritt.
Eine spezielle Rolle spielt die FDP, ihre Fraktionsmitglieder sind in beiden Komitees vertreten. Die «Spaltung» des Freisinns ist symptomatisch für deren unterschiedliche Stossrichtung. Um den Bauernverband haben sich jene Kräfte versammelt, die für eine «traditionelle» Landwirtschaft einstehen. Ihre Kritiker interpretieren das absehbare Ja als Votum für eine naturnahe und marktorientierte Lebensmittelproduktion und als Absage an den Protektionismus.
«Wir wollen dem Bauernverband nicht die Deutungshoheit überlassen», sagte der Berner GLP-Nationalrat und künftige Parteipräsident Jürg Grossen dem «St.Galler Tagblatt». Dahinter steckt die Furcht, dass der Verfassungsartikel dazu missbraucht werden könnte, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Reformen der letzten Jahre in der Landwirtschaft teilweise rückgängig zu machen.
«Ein grosser Teil der Bauern würde am liebsten zur Produktesubventionierung zurückkehren», sagte der Basler SP-Nationalrat Beat Jans, ein führender Vertreter des «alternativen» Ja-Komitees, vor drei Jahren zu watson. Also zu einem System, das Masse statt Klasse förderte. Die – sanften – Reformen führten zu einer Korrektur hin zu hochwertigen und innovativen Nahrungsmitteln.
Dennoch sind die Befürchtungen nicht unberechtigt. Konservative Bauern konnten sich mit dem Wechsel von Produktesubventionen zu Direktzahlungen nie wirklich abfinden. Sie sind laut dem «Tages-Anzeiger» nicht glücklich, dass ihr Verband seine Initiative zugunsten des unverbindlichen Gegenvorschlags zurückgezogen hat. Die Volksinitiative habe eigentlich zum Ziel gehabt, den letzten grossen Reformschritt, die Agrarpolitik 2014-17, teilweise rückgängig zu machen.
Bauenverbands-Präsident Markus Ritter weist den Verdacht zurück, er hoffe auf eine Rückkehr zur Subventionspolitik der Vergangenheit: «Im neuen Artikel zur Ernährungssicherheit legen wir explizit fest, dass die Produktion auf den Markt ausgerichtet sein soll», sagte der St. Galler CVP-Nationalrat dem «Tages-Anzeiger». Auch neue Subventionen sind offiziell nicht vorgesehen.
Der Dauerstreit um die Landwirtschaftspolitik wird so oder so weitergehen. Denn gleich mehrere weitere Volksinitiativen sind in der Pipeline. Neben der eher kuriosen Hornkuh-Initiative muss das Parlament über zwei Begehren aus dem tendenziell linken Spektrum beraten: Die Initiative «für Ernährungssouveränität» der Bauerngewerkschaft Uniterre und die Fairfood-Initiative der Grünen.
Sie tendieren zu mehr Protektionismus, insbesondere jene von Uniterre. Dieses Begehren will auch den Anbau von Genfood in der Verfassung verbieten. Markus Ritter lässt Sympathien für beide Initiativen erkennen. Der Bauernverband werde sie «sicher nicht bekämpfen».
Bei der Volksinitiative «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung» wird dies mit Sicherheit nicht der Fall sein. Für den «Tages-Anzeiger» ist sie ein «radikaler Angriff auf die Bauern». Sie will den Einsatz von Pestiziden und Antibiotika in der Landwirtschaft minimieren. Bauern sollen nur so viele Tiere halten, wie sie mit selbst produziertem Futter ernähren können.
Obwohl die Initiative bislang ohne namhafte Unterstützung auskommen muss, sind laut der Website nach weniger als einem halben Jahr bereits mehr als 70'000 Unterschriften beisammen. Eine ähnliche Stossrichtung verfolgt eine weitere Initiative einer Westschweizer Gruppe.
Nach relativ ruhigen Jahren muss sich die Landwirtschaft auf stürmische Abstimmungskämpfe gefasst machen. Letztlich geht es um die Frage, wie nachhaltig die Bauern produzieren sollen. Und wie viel Rücksicht die Schweiz beim Freihandel auf ihre Landwirtschaft nehmen will. Die Abstimmung über die Ernährungssicherheit wirkt da wie ein Vorgeplänkel.