Im dritten Wahlgang geschah, was kaum jemand für möglich gehalten hatte. Nicht Eva Herzog wurde zur Nachfolgerin von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga gewählt, sondern die als Aussenseiterin ins Rennen gestartete Elisabeth Baume-Schneider. Mit 123 Stimmen – darunter ihrer eigenen – erreichte sie exakt das absolute Mehr.
Diverse Faktoren dürften zur Überraschung geführt haben. Das intensive Lobbying der Bauern für die «Schafzüchterin» aus dem Jura, ihre charmante und offene Art, mit der sie in den Hearings offenbar inhaltliche Defizite zu kaschieren vermochte, und umgekehrt das distanzierte, auf maximale Fehlervermeidung bedachte Auftreten von Eva Herzog.
Auch machtpolitische Überlegungen dürften eine Rolle gespielt haben, etwa mit Blick auf die Nachfolge des anderen SP-Bundesrats Alain Berset. Tendenziell aber dominierte in den Kommentaren und Einschätzungen nach der Wahl die Vermutung, wonach die Bürgerlichen der «pflegeleichteren» Baume-Schneider zur Wahl verholfen hätten.
Aber stimmt das wirklich?
Mit etwas Distanz und nach der Verarbeitung des Frusts, den man als Bewohner einer Stadt und eines Nettozahlerkantons über den neuen Bundesrat verspürte, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Es setzt sich zusammen aus den Ereignissen der letzten Wochen und Gesprächen mit Parlamentsmitgliedern im Vorfeld und nach den Wahlen.
Zum Beispiel in der «Nacht der langen Messer». Ein einflussreicher bürgerlicher Nationalrat meinte wenige Stunden vor der Bundesratswahl, die Favoriten Albert Rösti und Eva Herzog würden wohl das Rennen machen. Im Fall von SVP-Rösti sagte er den Sieg im ersten Wahlgang voraus. Das zeigt: Selbst im bürgerlichen Lager sah man Herzog im Vorteil.
Im Gespräch mit Vertreterinnen der Grünen aber machte man eine irritierende Erfahrung. Sie erklärten offen, dass die Fraktion mehrheitlich Baume-Schneider wählen werde. Die Begründungen waren eher absurd. Sie kaschierten, worum es wirklich ging: Eva Herzog aus dem finanzstarken Pharma-Kanton Basel-Stadt war den Grünen zu wirtschaftsnah.
Diese hatten sowohl die Unternehmenssteuerreform III als auch die nach deren Scheitern konzipierte Steuer-AHV-Vorlage STAF bekämpft. Für beides hatte sich die damalige Basler Finanzdirektorin Eva Herzog aber vehement eingesetzt. Und auch die für Basel und die Schweiz sehr wichtige Pharmabranche ist den Technologie-skeptischen Grünen eher suspekt.
Elisabeth Baume-Schneider passte ihnen viel besser. Dazu trug auch das NZZ-Interview bei, in dem sie ihre linken Positionen offenlegte. Erst im Rückblick erkennt man, was es damit auf sich hatte. Das Verständnis für Klima-Klebeaktivisten und die Forderung nach einer Aufnahme von Klimaflüchtlingen signalisierte den Grünen, dass sie eine von «ihnen» ist.
Irritationen bei den Bürgerlichen nahm Baume-Schneider in Kauf. Schlau ist die Jurassierin, das muss man ihr lassen. Es trifft zu, dass man sie in der Deutschschweiz unterschätzt hat (der Verfasser dieser Zeilen inbegriffen). Eva Herzog hingegen gelang es im Hearing mit den Grünen nicht, die Vorbehalte gegen ihre Person auszuräumen.
Selbst in der eigenen Fraktion hielt sich der Enthusiasmus in Grenzen. Das zeigte sich im Nominierungsprozess. Das eigenartige Verfahren mit drei Wahlgängen bei nur drei Bewerberinnen liess auf Vorbehalte gegen Herzog schliessen. Letztlich setzte die SP-Fraktion sie contre cœur aufs Zweierticket, weil sie in den vier öffentlichen Hearings überzeugt hatte.
Die Partei wäre in Erklärungsnot geraten, wenn man Herzog übergangen hätte. Sie war die Kandidatin der Vernunft, die Herzen aber hatte Elisabeth Baume-Schneider erobert. Am Weihnachtsessen der Bundeshausfraktion am Abend des Wahltags wurde die neue Bundesrätin laut der Agentur Keystone-SDA mit begeisterten Applaus empfangen.
Das alles sind Indizien und keine schlüssigen Beweise, aber sie fügen sich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen. Eva Herzog ist nicht am Widerstand der Bürgerlichen oder der bösen SVP gescheitert, und auch nicht am irrlichternden Sololauf der «beleidigten Leberwurst» Daniel Jositsch. Sondern am mangelnden Rückhalt im rotgrünen Lager.
Wie sie damit umgeht, wird sich zeigen. Ein Indiz könnte das Ständeratspräsidium werden, das Baume-Schneider Ende 2023 übernehmen sollte. Nun braucht die SP einen Ersatz. Die Auswahl ist wegen angekündigten Rücktritten klein. Infrage kommen eigentlich nur der zur «Unperson» gewordene Jositsch, der Genfer Carlo Sommaruga – und Eva Herzog.
Man fragt sich, ob sie diesen «Trostpreis» akzeptieren will. Ins Gesamtbild passen auch die 98 Stimmen für SVP-Kandidat Hans-Ueli Vogt. Sie dürften primär von linken und grünen Mitgliedern der Bundesversammlung gekommen sein in der sehr vagen Hoffnung, dass die Städte und die Geldgeber im Finanzausgleich mit ihm weiter im Bundesrat vertreten sein werden.
Das ging schief, doch die Dynamik für Baume-Schneider war nicht mehr aufzuhalten. Jetzt hat die Schweiz eine Regierung, die geografisch und strukturell einseitig zusammengesetzt ist. Sie wird dominiert von ländlichen, strukturschwachen Regionen, und mit Guy Parmelin (SVP) sowie den beiden «Neuen» haben drei Mitglieder einen bäuerlichen Hintergrund.
Die urbane Schweiz, in der fast die Hälfte der Bevölkerung lebt, und die finanzstarken Kantone sind hingegen nicht mehr vertreten. Hart ist das für die Basler, die angesichts ihrer historischen Bedeutung und Wirtschaftskraft im Bundesrat seit je untervertreten sind. Die «Restschweiz» fremdelt oft mit der Region nördlich des Juras – und Basel mit ihr.
Eine gesunde Entwicklung ist das nicht, denn der nationale Zusammenhalt basiert nicht nur auf den Sprachregionen. Der in den vergangenen Wochen immer wieder zitierte Artikel 175 Absatz 4 der Bundesverfassung verlangt, dass auch auf eine angemessene Vertretung der Landesgegenden Rücksicht zu nehmen ist. Das ist im jetzigen Bundesrat nicht der Fall.
Vielleicht wird das Ungleichgewicht schon bald korrigiert, bei der Gesamterneuerungswahl in einem Jahr. Empörte Herzog-Unterstützer machten am Mittwoch in der Wandelhalle des Parlaments entsprechende Andeutungen. Es könnte sein, dass sie für einmal mehr sein wird als eine ritualisierte und eher langweilige Bestätigung der bisherigen Amtsinhaber.
Vieles ist in dieser Hinsicht offen. Wie gehen die Wahlen im Oktober aus? Wie schneiden Grüne und Grünliberale ab? Kommt es zu Rücktritten aus dem Bundesrat? Je nachdem scheint einiges möglich, was bisher als Tabu galt. Sogar die Abwahl eines Tessiners.