Eigentlich sahen es viele kommen. Seit Jahren erstellen die Bundesbehörden Berichte, in denen die «Top-Risiken» der Schweiz untersucht werden. Die Pandemie stand jeweils immer wieder in den oberen Rängen. Die Gefährdungsanalyse des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz aus dem Jahr 2015 liest sich heute wie eine übertriebene Zukunftsvision, die das beschreibt, was die Schweiz derzeit erlebt.
Die Gefahr des überlasteten Gesundheitswesens ist ein Punkt auf der Liste. Vor fünf Jahren hiess es in der Gefährdungsanalyse: «Die entstandenen Engpässe können auch durch den Einsatz pensionierter Ärzte und Medizinstudenten nicht vollständig kompensiert werden.»
Der Engpass wird durch drei Faktoren beeinflusst: Personal, Medizinalprodukte wie Geräte oder Medikamente und die Anzahl Betten. Thomas Zeltner, der ehemalige Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, untersuchte in einem Gutachten aus dem Jahr 2018, wie gut die Schweiz auf diesen Engpass vorbereitet ist. SRF berichtete erstmals über seine warnende Analyse.
Der ehemalige BAG-Chef schätzte damals, dass der Schweiz rund 4250 Spitalbetten fehlen würden. Die Kantone haben es laut seinem Bericht versäumt, die Reservekapazitäten für Notlagen miteinzuplanen. Zum gleichen Schluss kommt Zeltner bei Medikamenten, Medizinprodukten und Labormaterialien: Die Kantone haben die Forderung nach Minimalreserven bislang «nicht oder nur unvollständig umgesetzt».
Fehlen Spitalbetten oder die dringend benötigten Beatmungsgeräte, dann kommt es auf jedes einzelne darauf an, das noch verfügbar ist. Wie ernst die Lage ist, erzählte vergangene Woche ein kantonaler Gesundheitsdirektor im Hintergrundgespräch mit watson: Das Personal sei am Wochenende mit Strichli-Listen in Spitälern unterwegs gewesen, um Betten und Beatmungsgeräte zu zählen.
Wie viele Beatmungsgeräte tatsächlich verfügbar sind, wusste in der Schweiz zumindest bis vor einigen Tagen niemand. In den Spitälern wurde die Anzahl auf bis zu 850 geschätzt. Wie viele die Armee hat, ist unklar. Raynald Droz, Stabschef Kommando Operationen der Armee, sagte jedoch: «Nicht genug.»
Die Informationslage änderte sich erst letzte Woche. Die Kantone müssen seither ihr Inventar dem Bund melden.
Der schlechte Informationsfluss herrschte auch bei der wichtigsten Zahl, um als Staat strategisch eine Epidemie bewältigen zu können: Die Anzahl der Infizierten. Die Meldungen von Ärztinnen und Ärzten kamen teilweise per Fax an. Die grosse Menge an Daten überforderte die Bundesbehörden, dass sie erst nach längerer Verzögerung «à jour» waren, wie der Infektionsstand in den Kantonen ist. Schnellere, digitalere Lösungen wurden dabei vor Jahren gefordert.
Defizite in der Schweizer Epidemienbewältigung zeigten sich auch, nachdem der Bundesrat die besondere Lage ausgerufen hatte. Die Kantone mussten das Verbot von Versammlungen von über 1000 Personen konkretisieren und vollziehen. Was aber vor Ort passierte, glich einem Flickenteppich.
Föderalistisch wie die Schweiz ist, gingen manche Kantone weiter und führten neue Verbote ein. Andere wiederum blieben bei der Zahl von 1000 – selbst dann, als der Bundesrat ausloten wollte, ob man diese Zahl senken soll. Als die Landesregierung das Versammlungsverbot verschärfen wollte, sprach sich nur der «allergrösste Teil der Kantone» dafür aus, teilt die Gesundheitsdirektorenkonferenz auf Anfrage mit. Sprich: Einzelne Kantone waren dagegen oder enthielten sich.
Die Korrektur des Kantönligeistes kam mit der ausserordentliche Lage. Der Bundesrat übernahm die Führung und beschloss am 16. März in Eigenregie die nächste epidemiologische Stufe, womit neue, klare, schweizweite Lockdown-Massnahmen kamen. Die Kantone wurden auch hier angehalten, Folge zu leisten und die neuen Verbote und Erlasse zu vollziehen.
Auch das ging nicht ohne Kantönligeist. Die Gründe waren alle im Einzelfall verständlich: Der Kanton Uri beschloss für Seniorinnen und Senioren eine «Ausgangsbeschränkung», weil diese sich nicht an das Social Distancing hielten. Genf, Waadt und das Tessin schlossen aus demselben Grund alle Baustellen. Der Bundesrat pfiff die Kantone zurück und sagte, dass das Bundesrecht auch in Altdorf, Genf, Lausanne und Bellinzona zu befolgen sei.
Dass solche Konflikte drohen würden, war den Behörden schon im August 2018 bekannt. Ein juristisches Gutachten zur «besonderen Lage» stellte damals fest, dass eine «enge Zusammenarbeit zwischen Kantonen und Bund beim Vollzug der vom Bund angeordneten Massnahmen nötig, wenn nicht unabdingbar» sei.
Diese «enge Zusammenarbeit» gibt es aber bis heute nicht. Die Anhörung der Kantone, die es in der «besonderen Lage» formell gab, wurde mit der Ausrufung der ausserordentlichen Lage abgeschafft. Gesprochen wird nur noch informell miteinander, wenn der Bundesrat zum runden Tisch einlädt. Oder untereinander, wie watson etwa von Zentralschweizer Kantonen erfuhr.
In einer solchen Situation passiert jedoch das, was epidemiologisch in den vergangenen Jahren schief lief: Expertinnen vom Fach und Mahner vor Ort müssen dafür kämpfen, Gehör zu finden. Das erlebt derzeit auch das Tessin. «Wir sind immer zwei Schritte voraus im Kampf gegen Covid», sagte der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi.
Ähnlich klingt es von seinem Kantonsarzt Giorgio Merlani: «Wir sind euch etwa eine Woche voraus, lernt aus unserem Beispiel.» Er appellierte deshalb an die restliche Schweiz, diese Zeit zu nutzen. Diese Worte sollen sich der Bund und die Kantone zu Herzen nehmen.
Aber ein Problem ist, dass die Schweizer Sicherheitspolitik immer noch im Denken des Kalten Krieges gefangen ist. Da sollen 24 Milliarden für neue Kampfjets ausgegeben werden, die sich in dieser Höhe nur rechtfertigen lassen, wenn man davon ausgeht, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft einen Luftkrieg gegen Österreich führen werden.
Gleichzeitig versäumt man, sich für die realen Gefahren des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.