Angenommen, jeder Bürger müsste Arztrechnungen bis zu einer Limite von 10’000 Franken pro Jahr selber bezahlen: Was würde das mit unserem Gesundheitssystem machen?
Pascal Strupler: Diese Idee rüttelt an den Grundfesten unseres Versicherungssystems. Es wären nur noch grosse Risiken, wie etwa Krebserkrankungen, versichert. Das Nachsehen hätten Personen, die in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen leben, genauso wie chronisch Kranke.
Genau über eine solche Mindestfranchise von 10’000 Franken hat die Chefin der Krankenkasse CSS jedoch laut nachgedacht. Die tiefste Franchise wäre damit 33 mal so hoch wie heute. Eine billige Provokation?
Billig ist in dem Zusammenhang sicher das falsche Wort (lacht). Der Vorschlag ist radikal und höhlt das Solidaritätsprinzip aus. Überdies ist er nicht mehrheitsfähig und daher nicht geeignet, um die Kosten im Gesundheitswesen zu dämpfen.
Hinter der Forderung steckt der Grundgedanke, dass die Versicherten eigenverantwortlicher handeln sollen. Nach dem Motto: Im Zweifelsfall lieber ein Aspirin schlucken statt gleich zum Arzt rennen. Ist dieser Ansatz so falsch?
Es ist wichtig, dass jeder Patient selber Verantwortung übernimmt. Wir brauchen in diesem Bereich eine Sensibilisierung – aber nicht mit dem Vorschlaghammer. Es gibt bereits verschiedene Modelle, die darauf abzielen, dass die Versicherten nicht immer gleich zum Arzt gehen. Beispielsweise telemedizinische Voruntersuchungen.
Die Prämien haben sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Bürger wie auch Politiker beklagen die Entwicklung – und trotzdem passiert nichts. Woran liegt’s?
Es ist klar, dass dringend etwas passieren muss. Der Bundesrat hat 2016 eine international zusammengesetzte Expertengruppe damit beauftragt, Massnahmen auszuarbeiten, mit denen wir das Kostenwachstum dämpfen können. Ein erstes Massnahmenpaket kommt noch dieses Jahr in die Vernehmlassung. Darin befindet sich etwa ein Experimentierartikel, der innovative Projekte zur Kostendämpfung fördern soll. Mit der Senkung der Medikamentenpreise hat das BAG in den vergangenen Jahren zudem bereits Einsparungen von 800 Millionen Franken erzielt – das ist nicht nichts.
Für Kritiker sind das bloss Pflästerchen. Sie glauben, dass vielmehr eine Operation am offenen Herzen nötig ist, wenn wir unser Gesundheitssystem noch retten wollen.
Es stimmt: Wenn wir jetzt nichts Entscheidendes unternehmen, besteht die Gefahr, dass wir unser Gesundheitssystem an die Wand fahren. Doch ein einziges Wundermittel, das alle Probleme auf einen Schlag löst, gibt es nicht. Wir müssen an allen Ecken des Gesundheitssystems ansetzen und alle Akteure in die Pflicht nehmen: Spitäler, Ärzte, Kantone, den Bund, die Versicherer und letztendlich auch die Patienten.
Wer braucht am dringendsten einen Weckruf?
Die Ärzteschaft und die Patienten. Wir müssen alles daran setzen, medizinisch unnötige Interventionen zu vermeiden. «Less is more», lautet das Motto. Wir brauchen eine Medizin, die sich aufs Nötige beschränkt, ohne zu rationieren. Dafür braucht es eine Sensibilisierung in der Ärzteausbildung, aber auch die Entwicklung eines Gesundheits- und Kostenbewusstseins in der Erziehung und in den Schulen.
Die CVP will per Volksinitiative eine Kostenbremse im Gesundheitswesen verankern. Was taugt der Plan aus Ihrer Sicht?
Die Initiative wird eine Debatte über das Kostenbewusstsein im Gesundheitswesen anheizen und das ist gut so. Aber es ist nicht an mir, die Pläne zu kommentieren. Für das BAG steht das Massnahmenpaket des Bundesrats im Vordergrund.
Könnten die Prämien irgendwann wieder sinken, falls die Massnahmen wie erhofft anschlagen?
Wir müssen realistisch sein: Die Bevölkerung wird älter, das ist ein Kostentreiber. Auch die Innovationen in der Medizin und in der Pharma sorgen dafür, dass die Kosten weiter steigen. Die Massnahmen sollen Luft schaffen und dafür sorgen, dass die Kostenkurve weniger steil ansteigt. Dass die Prämien sinken, ist nicht realistisch.
Die Grundversicherung zahlt heute für homöopathische Globuli, viele Zusatzversicherungen auch für Fitness-Abos und Kontaktlinsen. Verstehen Sie den Vorwurf, die Krankenkasse sei zur Lifestyle-Versicherung geworden?
Die obligatorische Krankenversicherung stellt heute eine grosszügige Grundversorgung sicher, von Lifestyle-Behandlungen kann aber keine Rede sein. Zusatzversicherungen werden auf freiwilliger Basis abgeschlossen, von jenen, die eine zusätzliche Leistung wollen. Tendenziell haben Zusatzversicherungen das Potenzial, indirekt die Kosten auch in der Grundversicherung zu erhöhen. Dies werden wir uns genauer anschauen müssen.
Die Leistungen in der Grundversicherung zusammenzustreichen, ist für Sie keine Option?
Ziel muss es sein, unnötige medizinische Eingriffe zu verhindern. Zu diesem Zweck lässt der Bund derzeit im Rahmen von sogenannten Health Technology Assessments verschiedene Eingriffe auf ihre Wirksamkeit untersuchen.
Die Prämien sollen nicht mehr als acht Prozent des Haushaltseinkommens wegfressen – so wurde es bei der Einführung der obligatorischen Krankenkasse 1996 versprochen. Heute gehen bei einer jungen erwerbstätigen Person im Schnitt zwölf Prozent des Lohns für die Prämien drauf.
Das ist richtig, die Belastung der Haushalte steigt seit Jahren an. Darum müssen griffige Massnahmen so schnell als möglich umgesetzt werden.
Während die Prämien munter steigen, sparen viele Kantone bei den Prämienverbilligungen. Ist das aus Ihrer Sicht vertretbar?
Es ist tatsächlich problematisch, wenn gewisse Kantone hier ihre Beteiligung reduzieren. Eine Diskussion darüber ist bereits im Gang.
Je prekärer die Situation wird, desto lauter werden die Rufe nach radikalen Lösungen. Einzelne rechte Politiker liebäugeln damit, die Krankenkasse wieder freiwillig zu machen. Und auf der linken Seite ist die Idee einer Einheitskasse ein Dauerbrenner. Was glauben Sie: Wie lange tragen die Versicherten das aktuelle System noch mit?
Radikale Ideen stossen immer dann auf Anklang, wenn die Leute keinen anderen Ausweg mehr sehen. Wie gesagt: Wenn sich nichts ändert, droht unser System tatsächlich an Rückhalt zu verlieren. Bisher sehen wir aber in Umfragen, dass immer noch eine grosse Mehrheit grundsätzlich zufrieden ist. Darum waren Vorschläge wie eine Einheitskasse bisher an der Urne chancenlos.
Als BAG-Direktor sind Sie mitverantwortlich, wenn der Rettungsversuch scheitert. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Es liegen viele gute Vorschläge auf dem Tisch. Ich bin zuversichtlich, dass wir Resultate sehen werden, wenn die Einsicht sich durchsetzt, dass es höchste Zeit ist.