In Europa wollten viele die Bedrohung durch Donald Trumps Rückkehr ins Weisse Haus nicht wahrhaben. Umso brutaler ist nun das Erwachen. Der Schlagabtausch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj von letzter Woche in Washington zeigt: Die seit 1945 geltenden Sicherheitsgarantien der USA sind nichts mehr wert.
Die ersten Leidtragenden sind die kriegsversehrten Ukrainer, denen Trump die Militärhilfe und die Weitergabe von Geheimdienstinformationen stoppte. Vor allem letztere sind gegen den russischen Aggressor überlebenswichtig. Selenskyj kroch deshalb schnell zu Kreuze. Es kann sein, dass der erratische US-Präsident die Hilfen bald wieder aufnimmt.
Europa aber muss sich in jedem Fall neu sortieren, denn dass Trump die NATO und vor allem die EU hasst, ist offensichtlich. Es gab hochrangige Krisentreffen, in Paris, London und am Donnerstag bei der EU in Brüssel. Dort segneten die Staats- und Regierungschefs den ambitionierten Aufrüstungsplan von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ab.
Plötzlich sind Dinge möglich, die lange undenkbar schienen. Und die Schweiz? Hier tut der Bundesrat so, als gehe ihn das nichts an. Nach dem Eklat im Weissen Haus gab es einzig ein Statement von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter auf X, in dem sie sich zu einem «gerechten und dauerhaften Frieden» bekannte und die russische Aggression verurteilte.
Wer nach der Bundesratssitzung vom Freitag auf klarere Worte gehofft hatte, wurde enttäuscht. Man nehme «die geopolitische Lage ernst», sagte Keller-Sutter vor den Medien. Von einer deutlichen Positionierung der Schweiz aber wollte die Bundespräsidentin nichts wissen: «Lautstärke ist kein Gradmesser für die Qualität der Aussenpolitik.»
Danach wandte sich die Finanzministerin dem eigentlichen Thema der Medienkonferenz zu: der Mitte-Volksinitiative zur Abschaffung der «Heiratsstrafe». Irgendwie verstand man den Frust der abtretenden Verteidigungsministerin Viola Amherd, deren Forderungen nach einem stärkeren Engagement der Schweiz vom Gesamtbundesrat abgeblockt wurden.
Es bringt sicher nichts, wenn die Schweiz in «Aktionitis» verfällt. Auf diplomatischer Ebene sucht sie gemäss CH Media den Anschluss an die Entwicklungen in Europa. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass der Bundesrat wieder einmal versucht, sich in stürmischen Zeiten hinter den vermeintlich sicheren Mauern der Neutralität zu verschanzen.
Das aber ist eine riskante Strategie, wie ein Beitrag in der NZZ zeigt, verfasst von einem Mitarbeiter der Berliner Redaktion. Demnach gibt es in Deutschland zunehmend Stimmen, die mit Blick nach Süden von «sicherheitspolitischen Parasiten» sprechen (gemeint ist auch Österreich). Zumindest aber würden die Nachbarn als neutrale «Trittbrettfahrer» empfunden.
Im Fall der Schweiz kommt hinzu, dass sie der deutschen Regierung die Weitergabe von Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine verweigert hat. Für den NZZ-Autor wirkt dies wie ein «kalter Hauch des Todes», denn:
Das ist starker Tobak, den in der Schweiz zu viele verdrängen. Den Preis zahlt die Rüstungsindustrie, indem sich Deutschland sogar weigert, «Tarnnetze made in Switzerland» zu kaufen. Nur in einem Punkt liegt der Berliner NZZ-Redaktor kreuzfalsch: Die Neutralität hat in der Schweiz nicht «Verfassungsrang» – sie wird lediglich nebenbei erwähnt.
Es ist der Grund, warum SVP-nahe Kreise um Christoph Blocher die Neutralitätsinitiative lanciert und eingereicht haben. Abgestimmt wird frühestens 2026. Zumindest im Parlament aber scheint sich langsam die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Neutralität angesichts der sicherheitspolitischen Zeitenwende in Europa keine «Rettungsinsel» mehr darstellt.
Dies zeigte sich am Donnerstag, als der Nationalrat überraschend klar eine Erklärung verabschiedete, die den Bundesrat in der Sicherheitspolitik zur verstärkten Zusammenarbeit mit Europa auffordert. Dagegen waren nur die SVP und ein paar Freisinnige. Die Zürcher Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun meinte, unsere Neutralität dürfe kein Grund zur Abschottung sein:
Selbst die pazifistischen Grünen denken um, wie der Vorstoss von Ex-Präsident Balthasar Glättli zeigt, der vom Bundesrat verlangt, bei Rüstungskäufen der Ukraine den Vortritt zu lassen. Und auch die Spitzen der Parteien im politischen Zentrum scheinen bereit zu sein, bisherige «Tabus» zu hinterfragen und eine Annäherung an Europa anzustreben.
Das gilt für Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der eine institutionelle Anbindung an die EU lange skeptisch bis ablehnend beurteilte und nun nach einem Weg sucht, die Problematik innenpolitisch zu entschärfen. FDP-Chef Thierry Burkart wiederum schliesst Mehreinnahmen für die Armee nicht mehr kategorisch aus, wie er im «Tages-Anzeiger»-Interview sagte.
Der Aargauer Ständerat schlägt vor, bei Waffenkäufen europäische Anbieter zu bevorzugen, sofern gleichwertige Angebote vorliegen. Burkart begründet dies damit, dass man sich auf die USA nicht mehr verlassen könne. Man könnte diese Idee aber auch als Versuch interpretieren, europäische Kritik an der Schweizer «Trittbrettfahrerei» abzufedern.
Es tut sich etwas im neutralen Helvetien. Jetzt muss es noch der Bundesrat kapieren. Karin Keller-Sutter verwies am Freitag wieder einmal auf die Guten Dienste, doch die ziehen immer weniger. Das gilt nicht nur für die Bürgenstock-Konferenz, die sich als Sackgasse erwiesen hat. Über einen Frieden in der Ukraine wird in Saudi-Arabien verhandelt.
Schon am Donnerstag musste die diplomatische Schweiz einen Rückschlag vermelden. Die auf Wunsch der UNO-Generalversammlung für Freitag in Genf geplante Konferenz über die Anwendung der Genfer Konventionen – deren «Schutzmacht» die Schweiz ist – in den besetzen Palästinensergebieten wurde abgesagt, weil Israel und die USA sie boykottieren.
Ob Nahost oder Ukraine: Die Schweizer Neutralität gerät aussen- und sicherheitspolitisch an ihre Grenzen. Das gilt es auch zu bedenken, wenn am nächsten Mittwoch ein Bundesrat gewählt wird, der vermutlich Viola Amherd im Verteidigungsdepartement «beerben» wird.
Den Mafiaboss aus dem Kreml interessiert nur, dass man tut was er sagt.
Unsere Neutralität ist tot, egal wie sehr die SVP versucht darauf in die Ignoranz zu reiten.
Liebe rechtsbürgerliche Politiker*innen, allen voran die Bundespräsidentin: fürs Herumlavieren und sich auf die Seite jener schlagen, mit denen man am profitabelsten Geschäfte machen kann, seid Ihr nicht gewählt.