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Arbeitswelt

Setzt die EU in der Schweiz den Lohnschutz gegen bürgerlichen Widerstand durch?

Fällt das Thema auf Gesamtarbeitsverträge, tut sich ein Röstigraben auf. Treibende Kraft hinter der Forderung, die Gürden für GAV zu senken, ist das Centre Patronal, das westschweizer Pendant zum Arbe ...
Fällt das Thema auf Gesamtarbeitsverträge, tut sich ein Röstigraben auf. Treibende Kraft hinter der Forderung, die Gürden für GAV zu senken, ist das Centre Patronal, das westschweizer Pendant zum Arbeitgeberverband.bild: centre patronal

Setzt die EU in der Schweiz den Lohnschutz gegen bürgerlichen Widerstand durch?

Westschweizer Arbeitgeber und bürgerliche Nationalräte wollen tiefere Hürden für Gesamtarbeitsverträge. Im Ringen um das Rahmenabkommen mit der EU bekommt das Anliegen eine neue Bedeutung.
25.07.2018, 07:08
Doris Kleck / Nordwestschweiz
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Die Aktion war konzertiert. Ausgerechnet drei bürgerliche Nationalräte – Olivier Feller (FDP/VD), Marco Chiesa (SVP/TI) und Jean-Paul Gschwind (CVP/JU) – nahmen in einem Vorstoss ein altes gewerkschaftliches Anliegen auf: Gesamtarbeitsverträge (GAV) sollen von den Behörden leichter auf ganze Wirtschaftszweige ausgedehnt werden können. Oder wie es im Fachjargon heisst: für allgemeinverbindlich erklärt werden.

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GAV werden zwischen Arbeitgeberverbänden oder Unternehmen mit Gewerkschaften abgeschlossen. Der Bund oder die Kantone können sie für allgemeinverbindlich erklären, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Arbeitgeberverbände müssen mindestens 50 Prozent aller Firmen vertreten und der GAV muss für die Hälfte aller Beschäftigten einer Branche gelten, damit die Bestimmungen für alle zur Pflicht werden können.

Gesamtarbeitsverträge
589 Gesamtarbeitsverträge sind in Kraft. Davon sind 76 allgemeinverbindlich. Sie gelten für 1'032'600 Arbeitnehmer – das sind mehr als ein Viertel aller Beschäftigten. Vor 15 Jahren gab es erst 36 allgemeinverbindliche GAV – gültig für 360'800 Beschäftigte.

Diese Hürden sollen gesenkt werden. Die bürgerlichen Nationalräte Feller, Chiesa und Gschwind überzeugten im Frühling eine knappe Mehrheit der Wirtschaftskommmission des Nationalrates. Für die Allgemeinverbindlichkeit soll künftig genügen, dass 35 Prozent der betroffenen Arbeitgeber an einem GAV beteiligt sind, sofern sie mindestens 65 Prozent der betroffenen Arbeitnehmer beschäftigen. Die Bestimmung soll flexibel sein. Sind mehr Firmen beteiligt – zum Beispiel 45 Prozent –, müssen sie weniger Arbeitnehmer beschäftigen. In unserem Beispiel 55 Prozent.

Olivier Feller, Nationalrat FDP/VD, vom ueberparteilichen Komitee "Vollgeld-Initiative Nein", spricht waehrend der Medienkonferenz, am Donnerstag, 26. April 2018, in Bern. (KEYSTONE/Marcel B ...
Olivier Feller (FDP) reichte zusammen mit zwei weiteren Bürgerlichen den Vorstoss ein.Bild: KEYSTONE

Der Röstigraben

Der Entscheid der Nationalratskommission war überraschend, weil das Parlament beim Arbeitsgesetz derzeit auf Lockerungen drängt – etwa bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Und weil die bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbände eine stärkere Regulierung des Arbeitsmarktes ablehnen. Diese Skepsis gilt jedoch vor allem für die Deutschschweiz. In der Frage der GAV gibt es einen veritablen Röstigraben. Treibende Kraft hinter den parlamentarischen Vorstössen von Feller, Chiesa und Gschwind ist nämlich das Centre Patronal – das Westschweizer Pendant zum Arbeitgeberverband.

Patrick Eperon, Kommunikationschef beim Centre Patronal, nennt die heutige Regelung grotesk. «In Branchen mit vielen kleinen Arbeitgebern ist es sehr schwierig, die notwendigen Quoren für die Allgemeinverbindlichkeit zu erreichen», sagt Eperon. Als Beispiel aus dem Kanton Waadt nennt er die Textil-Reinigungsbranchen. In der Region gab es etwa 20 Unternehmen, wovon fünf mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer beschäftigten.

«Wir wollen nicht, dass einige schwarze Schafe eine ganze Branche in Verruf bringen.»
Patrick Eperon, Centre Patronal

«Trotzdem war es nicht möglich, den Gesamtarbeitsvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären», sagt Eperon. Mit der Konsequenz, dass keine Handhabe gegen die echten, oft kleinen Sündenböcke bestand, welche die Arbeitsbedingungen nicht eingehalten hatten. «Wir wollen nicht, dass einige schwarze Schafe eine ganze Branche in Verruf bringen», sagt Eperon. Vor allem fürchten sich die Westschweizer Arbeitgeber davor, dass die Kantone bei Problemen Mindestlöhne festlegen: «Um dies zu verhindern, stärken wir lieber die Sozialpartnerschaft», sagt Eperon.

Diktat der Grossen

Eperon weiss, dass die Idee des Centre Patronal bei den Deutschschweizer Wirtschaftsverbänden auf Ablehnung stösst. Der Arbeitgeberverband bedauerte den Entscheid der Nationalratskommission, «mit dem erneut am flexiblen Arbeitsmarkt, einem der wichtigsten Trümpfe der Schweiz, gerüttelt wird». Der Arbeitgeberverband kritisiert, dass mit dem reduzierten Arbeitgeberquorum eine kleine Zahl grosser Unternehmen mit vielen Mitarbeitenden einer Mehrheit von Unternehmen gesamtarbeitsvertragliche Regelungen aufzwingen würde.

Das Tessiner Komitee fuer eine zweite Gotthardroehre mit Staenderat Filippo Lombardi und Patrick Eperon,Transportdelegierter der SSPA, links, feiert den bevorstehenden Sieg bei der Abstimmung zur 2. G ...
Patrick Eperon vom Centre Patronal sagt, die tieferen Hürden für die GAV könnten eine Lösung im Streit mit der EU um flankierende Massnahmen sein.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS
«Bei uns greifen die Kantone schneller in den Arbeitsmarkt ein, als in der Deutschschweiz – das ist eine Tatsache.»
Patrick Eperon, 

Eperon sagt dazu, dass die Westschweizer Unternehmen in einer anderen Realität leben würden: «Bei uns greifen die Kantone schneller in den Arbeitsmarkt ein, als in der Deutschschweiz – das ist eine Tatsache.» Dennoch müsse auch die Deutschschweizer die Frage der Allgemeinverbindlichkeit interessieren: «Die tieferen Hürden könnten ein Beitrag zu einer Lösung im Streit um die flankierenden Massnahmen sein», sagt Eperon. Und damit eine Möglichkeit, um mit der EU ein Rahmenabkommen abzuschliessen, was wiederum im Interesse der Wirtschaft sei.

Denn die EU macht das Abkommen abhängig von einem Entgegenkommen der Schweiz bei der Acht-Tage-Regel: Ausländische Firmen müssen acht Tage im Voraus melden, wenn sie in der Schweiz tätig werden wollen. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann muss bis Ende August mit den Sozialpartnern ausloten, ob es einen Spielraum bei den flankierenden Massnahmen gibt.

Gewerkschaften winken ab

Bereits nächste Woche trifft sich Schneider-Ammann mit Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich. Der Berner SP-Nationalrat will sich zwar vor den Gesprächen nicht in die Karten blicken lassen. Mit der Allgemeinverbindlichkeit lasse sich aber kein Kompromiss erkaufen: «Sie hat nichts mit der Acht-Tage-Regel zu tun», sagt der Gewerkschaftschef. Das Problem des Arbeitgeberquorums müsse unabhängig angegangen werden – der Entscheid der Kommission sei ein «Schritt in die richtige Richtung.»

Derzeit ist schwierig absehbar, wie die Lösung im Streit um die Acht-Tage-Regel aussehen könnte. Dass die Gesamtarbeitsverträge eine Rolle spielen könnten, ist allerdings nicht nur ein Westschweizer Wunschgedanke. Der St. Galler CVP-Regierungsrat Benedikt Würth, der die einflussreiche Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) präsidiert, hat bereits ähnliche Gedanken angestellt. Auch Würth wird sich in den nächsten Wochen mit Schneider-Ammann treffen.

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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walsi
25.07.2018 08:08registriert Februar 2016
GAV sind eine sehr gute Sache und sollten in allen Branchen obligatorisch sein. Ohne GAV werden viel Menschen ausgebeutet.
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balzercomp
25.07.2018 08:59registriert Januar 2016
Ich nehme an die "Gürden" in der Bildunterschrift sollen auch "Hürden" sein
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sowhat
25.07.2018 08:51registriert Dezember 2014
Mir kam auch als erstes der Gedanke, dass damit ein paar Grosse die kleinen unterbuttern können. Irgenwas ist bei diesem Vorstoss nicht so ganz klar. Das Argument wg der schwarzen Schafe wirkt nicht sehr glaubwürdig.
Ausserdem finde ich es nicht wirklich schlimm, wenn die Kantone mit Mindestlöhnen reagieren, das kann ja dann die weissen Schafe nicht schmerzen, oder? Wenn Mindestlöhne definiert werden, sind die idR ja nicht sooo hoch.
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