Minderjährige Flüchtlinge, die ohne Begleitung in die Schweiz gelangen, stehen unter besonderem Schutz. Ihre Asylgesuche werden prioritär behandelt, sie werden in kindergerechten Einrichtungen untergebracht und ihnen wird eine Vertrauensperson zur Seite gestellt. 733 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr in die Schweiz. Im laufenden Jahr waren es bis Ende Juli 244.
Weil es immer wieder Fälle von jugendlichen Asylsuchenden gibt, die sich fälschlicherweise als minderjährig ausgeben, um von der Sonderbehandlung zu profitieren, setzt der Bund auf medizinisch-forensische Gutachten. Besteht Zweifel an den Angaben eines Jugendlichen, wird sein Alter von einem Rechtsmediziner eingeschätzt.
Bisher stützte sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) bei den forensischen Altersgutachten auf die Analyse der Handknochen. Diese Ergebnisse sind jedoch ungenau. Darum kam im Testbetrieb des Bundes in Zürich seit 2014 die sogenannte Drei-Säulen-Methode zur Anwendung. Im Zuge der an der Urne angenommenen Asylreform sollen die drei Tests nun flächendeckend in der ganzen Schweiz eingeführt werden. Gegenüber der NZZ am Sonntag sagte der SEM-Sprecher Lukas Rieder: «Damit können eine einheitlichere Praxis und mehr Rechtsgleichheit bei der Festlegung des Alters erreicht werden.»
Doch die Drei-Säulen-Methode gilt in Fachkreisen als höchst umstritten. Bei dem Verfahren wird zuerst das Knochenalter analysiert, wobei primär das linke Handgelenk geröntgt und die Knochenverhärtung und -entwicklung untersucht werden. Dazu ergänzend kann auch der Schlüsselbeinknochen analysiert werden. Weiter werden die Zähne geröntgt. Anhand des Wurzelwachstums und der Mineralisation der Zähne wird auf ein Alter geschlossen. Zuletzt wird der Körper insgesamt begutachtet. Dazu gehört die Beurteilung der Geschlechtsreife aufgrund der Entwicklung der Körperbehaarung, Brüste und Genitalien. Die Jugendlichen müssen sich für diesen Untersuch ausziehen. Die Inspektion erfolgt ohne Berührung, nur von Auge.
Die europäische Dachorganisation der Kinderärzte, zu der auch die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie gehört, empfiehlt, auf solche Altersschätzungen mittels biologischer Merkmale zu verzichten. In einer gemeinsamen Stellungnahme schreiben Georg Friedrich Eich, Kinderradiologe im Kantonsspital Aarau, und Valérie Schwitzgebel, Professorin für pädiatrische Endokrinologie an der Universität Genf, dass die Knochenalterbestimmung bei Asylsuchenden zur Unterscheidung der Volljährigkeit ethisch bedenklich und methodologisch unbrauchbar sei. «Die Skelettalterbestimmung ist eine anerkannte Standardmethode zur Bestimmung des biologischen Alters. Sie ist nicht zur Bestimmung des chronologischen Alters vorgesehen und wurde mit dieser Fragestellung auch nicht geprüft.»
Auch Ruth-Gaby Vermot von der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht findet Altersbestimmungen höchst problematisch. «Kinderrechte werden missachtet, die Integrität einer Person verletzt, und das zugunsten eines Gutachtens, das ein unzuverlässiges Ergebnis liefert.» Sie versteht nicht, warum der Bund weiter an diesen Altersbestimmungen festhält. «Das genaue Alter lässt sich sowieso nicht eruieren. Warum also werden Jugendliche abgeklärt, anstatt eine faire Chance auf eine schulische oder berufliche Ausbildung zu erhalten?» Ihrer Meinung nach könnten so die Kosten für Altersgutachten sinnvoller genutzt werden.
Kritik gibt es auch von Seiten der Wissenschaft. In seiner Masterarbeit an der Universität von London hat Johannes Oertli die Verfahren zur Altersbestimmung von jungen Asylsuchenden in der Schweiz untersucht. Problematisch sei, dass die Methoden aus den 50er-Jahren stammen und unter menschenunwürdigen Umständen entwickelt wurden, sagt er. So mussten sich Waisenkinder für eine Langzeitstudie über Jahre hinweg in regelmässigen Abständen nackt fotografieren und röntgen lassen.
Heikel findet Oertli, dass die Tests der Drei-Säulen-Methode anhand von weissen Kindern entwickelt wurden und heute im Asylverfahren bei nicht-weissen Kindern Anwendung finden. Der Datensatz werde dann einfach angepasst, je nachdem ob ein Kind von afrikanischer, asiatischer oder europäischer Herkunft sei. «Mir ist schleierhaft, was ein eritreischer oder äthiopischer Jugendlicher mit einem Jugendlichen aus Südafrika gemeinsam hat, ausser der Hautfarbe. Das führt dazu, dass die Hautfarbe zu einem Unterscheidungsmerkmal wird», sagt Oertli.
Trotz aller Kritik hält das SEM an der Drei-Säulen-Methode fest. Ab 2019 sollen so jährlich 600 bis 700 jugendliche Asylsuchende abgeklärt werden. Sprecher Lukas Rieder verweist auf Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sowie auf einen Bericht des Instituts für Rechtsmedizin Basel, welche die Praxis des Bundes überprüft und gestützt haben. «Das Drei-Säulen-Modell trägt zuverlässig und effizient dazu bei, bei Zweifel am geltend gemachten Alter den Sachverhalt zu klären», sagt Rieder. Ausserdem würden die Altersangaben nur im Verdachtsfall überprüft.
Eine andere Erfahrung macht Rechtsanwalt Joël Müller. Als Rechtsvertreter ist er im beschleunigten Asylverfahren tätig, wo er als Vertrauensperson auch minderjährige Asylsuchende vertritt. In einem ausführlichen Beitrag aus dem Jahr 2017 untersuchte er die Gesetzmässigkeit von Altersbestimmungen im Asylverfahren und kam zum Schluss: «Es ist oft nicht nachvollziehbar, in welchen Fällen weshalb Altersgutachten erstellt werden.»
Im Asylgesetz ist klar festgehalten, dass Altersgutachten nur dann erstellt werden dürfen, wenn Hinweise bestehen, dass eine Person volljährig ist. Das ist wichtig, denn das Röntgen und die Untersuchung von äusserlich erkennbaren sexuellen Reifezeichen bedeuten einen Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen. Doch laut den Beobachtungen von Müller sieht das in der Realität anders aus. «Ich habe Klienten vertreten, die jung aussahen, bei der Befragung gute, konsistente Aussagen gemacht haben und die dann doch bei der Rechtsmedizin für eine Beurteilung des Alters antraben mussten.» In vielen Fällen sei ihm und seinen Klienten schleierhaft geblieben, welche Hinweise auf die Volljährigkeit im Einzelfall bestanden hätten.
In seiner Untersuchung bilanziert Müller, dass Altersgutachten in den letzten Jahren für die Altersbestimmung von Asylsuchenden immer mehr Gewicht erhalten. Insbesondere problematisch findet er, dass eine Altersanpassung, die gestützt auf ein Altersgutachten vorgenommen wurde, nicht angefochten werden kann. «Erst gegen den definitiven Asylentscheid kann Rekurs eingereicht werden. Bis dann ist mein Mandant allenfalls schon volljährig und musste Jahre in Erwachsenenstrukturen verbringen, was eine erheblichen Gefährdung des Kindeswohls darstellt.»
Die Einführung von flächendeckenden Altersgutachten in der Schweiz findet Müller darum unverhältnismässig. Einerseits aus Sicht der Betroffenen, da der Wortlaut des Gesetzes Altersgutachten nur bei begründeten Hinweisen auf eine Volljährigkeit zulässt und andererseits weil Altersgutachten auch für die öffentliche Hand ein teures Unterfangen darstellen würden. Das SEM rechnet mit Kosten von 1,1 Millionen Franken.
Die Ausweitung des Drei-Säulen-Modells auf die ganze Schweiz ruft nun auch die Politik auf den Plan. Die SP-Nationalrätin Silvia Schenker zeigte sich bereits in der Vergangenheit besorgt über die Handhabung des Bundes, das Alter von jungen Asylsuchenden mit umstrittenen Gutachten zu bestimmen. Auch die Drei-Säulen-Methode beurteilt sie kritisch. «Insbesondere die körperlichen Untersuchungen, bei denen sich junge Asylsuchende vor einem Rechtsmediziner ausziehen müssen, finde ich extrem stossend. Das ist nicht hinnehmbar.» Die SP wolle sich nun der Sache annehmen und auf parlamentarischem Weg intervenieren.