Ali J. fährt auf seinem Stadtvelo vor, ein Hosenbein hochgekrempelt, und parkiert vor seinem ehemaligen Schulhaus, dem Kirschgarten-Gymnasium in Basel. Hier steht er also, der Mann, der gemäss dem Nachrichtendienst des Bundes eine «ernsthafte Gefahr für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz» darstellt. 27 Jahre jung, Bart, Daunenjacke, Jeans, Lederstiefeletten. Er lächelt und sagt, er wisse nicht, ob es gut oder schlecht für ihn ausgehen werde, wenn er nun zum ersten Mal öffentlich seine Geschichte erzähle.
Zu verlieren hat Ali J. allerdings nichts mehr. Er ist einer von fünf Irakern in der Schweiz, die von den Sicherheitsbehörden als dschihadistische Gefährder eingestuft werden, aber derzeit nicht ausgeschafft werden können, da ihnen in ihrer Heimat Folter droht. Es ist eine vertrackte Situation für beide Seiten. Die Iraker dürfen sich in der Schweiz frei bewegen, haben hier aber keine Perspektiven. Und die Sicherheitsbehörden sehen in ihnen eine Gefahr, die sie nach aktueller Rechtslage nicht entschärfen können. Derzeit ist ein neues Anti-Terror-Gesetz in Arbeit, das es den Behörden erlauben soll, Männer wie Ali J. vorsichtshalber einzusperren.
Ali J. hat die Anfrage für ein Gespräch angenommen, weil er eine klare Vorstellung davon hat, wie er seine Geschichte erzählen will. Das Kirschgarten-Gymnasium wählt er als Treffpunkt, weil hier alles begonnen hat: Sein Aufstieg als Flüchtling, der als Siebenjähriger aus dem Irak in die Schweiz kam und es als Einziger seiner Klasse ins Gymnasium schaffte. Seine Mediengeschichte als Aktivist der Koranverteilaktion «Lies!», der im T-Shirt mit dem Logo der Gruppierung einen Islam-Vortrag vor einer Klasse hielt, eine Videoaufzeichnung davon über Youtube verbreitete und Schlagzeilen als «Salafist im Schulzimmer» machte. Hier entstand auch die Legende vom «Apotheker», wie ihn die Ermittler nennen, der Bio und Chemie als Matur-Schwerpunkt wählte und ein Semester Pharmazie studierte.
Dem Fotografen sagt er, wie er sich das Bild vorstellt: Er vor der Fassade des Schulhauses von hinten in einer Totalaufnahme. Der kleine Mann im Kampf gegen das System. Nach den ersten Fotos eilt der Rektor aus dem Schulhaus und fragt nach einer Fotobewilligung, das Schulareal sei kein öffentlicher Platz. Als er Ali J. erkennt, sagt er: «Guten Tag, Sie sind doch bei uns zur Schule gegangen?» Der Rektor hat ihm damals das Maturzeugnis überreicht und wechselt nun vom strengen Schulleiter-Blick zum freundlichen Lehrer-Gesicht. Er fragt: «Wie geht es Ihnen?» Ali J.: «Schwierig zu sagen, wenn man von zwölf Franken Nothilfe am Tag leben muss.» Der Rektor: «Aber Sie studieren wieder?» – «Leider nicht», sagt Ali J. und berichtet über das neuste Kapitel im Fall des «Apothekers».
Die Universität Basel hat Ali J. eine erneute Zulassung zum Studium verweigert. 13000 Studenten sind eingeschrieben. Ein Dossier blieb hängen. Der Grund: Das Rektorat hat vom Geheimdienst erfahren, dass AliJ. gefährlich sei. Die Universität beruft sich auf ihre Studienordnung, die seit 2011 festhält, dass ausgeschlossen werden kann, wer wegen einer schweren Straftat verurteilt worden ist. Der Strafregisterauszug von Ali J. ist zwar leer. Doch die Universität gewichtet den Bericht des Nachrichtendienstes wie ein Urteil. Ali J. wehrt sich dagegen – durch alle Instanzen. Soeben hat er vor dem Bundesgericht einen Zwischensieg errungen. Das höchste Gericht urteilt, dass er im Prozess gegen die Universität ein Recht auf einen staatlich finanzierten Anwalt hat.
Auf den Radar des Nachrichtendienstes geriet Ali J. gemäss einem Amtsbericht durch «seine Kontakte und Aktivitäten» in der «salafistischen und dschihadistischen Szene» von Basel. So sei er mit einem Iraker befreundet, der vom Bundesstrafgericht rechtskräftig wegen Terror-Propaganda verurteilt worden ist. Zudem verkehre er in der umstrittenen König-Faysal-Moschee. Er sei er als Lies!-Aktivist in Erscheinung getreten und falle durch «eine markante Wesensänderung» auf. Gemeint ist wohl unter anderem der Bart. Der schwerste Vorwurf: Zweimal sei der Iraker in seine Heimat gereist, wo er sich in den Krisengebieten Syrien und Irak aufgehalten habe und Kontakte zu Terrororganisationen gehabt haben soll.
Ali J. erzählt eine andere Geschichte, seine Geschichte. Zur Vorbereitung für sein Treffen mit dieser Zeitung hat er Notizen auf bunte Post-it-Zettel gekritzelt. Er sitzt vor der Kantine seines Gymnasiums auf einem Aluminium-Stuhl in der Februarsonne, grüsst den Küchenchef wie einen alten Freund, und beginnt bei der Geburt, am 12.Januar 1992, in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Er war das zweitälteste Kind von fünf Geschwistern. Als er fünf Jahre alt war, flüchtete sein Vater vor Diktator Saddam Hussein in die Schweiz und liess die Kinder bei den Grosseltern zurück. Mit sieben kam Ali in die Schweiz. «Legal», erzählt er, «im Flugzeug».
Auf Ali lasteten die hohen Erwartungen seiner Eltern. Er wollte ihnen beweisen, wozu er fähig ist. Das Gymnasium sei schwierig gewesen, die Sprachen hätten ihm Mühe bereitet, sagt er heute auf Baseldeutsch. Im zweiten Anlauf bestand er die Matur.
Bei der mündlichen Maturprüfung kam es zu einem Vorfall, der später für Wirbel sorgte. Ali J. erklärte einer Lehrerin, er könne ihr aus religiösen Gründen die Hand nicht geben. Der Lehrerin habe er gesagt, was er allen Frauen zu sagen pflege. «Stellen Sie sich vor, Sie seien zu Besuch bei Queen Elizabeth. Da können Sie nicht einfach zu ihr gehen und ihr die Hand geben. Weil sie eine bestimmte Position innehat.» Für ihn seien alle Frauen wie Queen Elizabeth. Die ehrenvolle Stellung der Frau verbiete es ihm, sie anzufassen. Deshalb lege er seine Hand beim Gruss auf sein Herz und sage damit, der Gruss komme von Herzen. Er meint: «Ich respektiere die Regeln der Schweiz und versuche mich anzupassen, aber als Muslim werden mir Steine in den Weg gelegt.»
Zum Vorwurf, er gehöre zur islamistischen Szene, sagt er: «Es gibt gar keine Szene. Es ist, wie wenn Leute in die Kirche gehen und sich im Gottesdienst treffen.» Ausserhalb der Moschee sehe er die Leute selten. In die König-Faysal-Moschee gehe er, seit ihn sein Vater als Kind mitgenommen habe. Damals habe er dort am Samstag den Arabisch-Unterricht besucht und am Nachmittag mit den anderen Jugendlichen grilliert. «Das geht heute nicht mehr, seit die Moschee unter medialen Druck gekommen ist», sagt er.
Die dunkelste Zeit in seinem Leben habe begonnen, nachdem er mit 23 Jahren in den Irak gereist war. Er habe gewusst, dass er mit der Reise seinen Flüchtlingsstatus in der Schweiz gefährde. Doch er habe Heimweh verspürt. Er habe eine Frau heiraten wollen, die er über seine Familie und das Internet kennen gelernt habe. Doch die Hochzeit kam nicht zustande.
Danach sei er im Irak herumgereist, um auf andere Gedanken zu kommen, und weil er sich für die Geschichte von Kurdistan interessiert habe. In einem Taxi sei er über die iranische Grenze gefahren. Der Trip endete im Gefängnis. An der Grenze sei er festgenommen worden und ein Jahr lang in eine kleine Zelle mit einem Loch als WC gesteckt worden. Man habe ihn geschlagen. Freigelassen habe man ihn erst, als er dem iranischen Geheimdienst zugesagt habe, als Spitzel zu arbeiten und Informationen über den IS zu liefern. Nach der Freilassung habe er sich nie gemeldet. Sein Onkel sei IS-Mitglied, doch er habe ihn seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen. Insiderwissen über den IS habe er nicht.
Die Schweizer Behörden glaubten die Geschichte vom Gefängnis im Iran und dem Geheimdienst nicht. Sie stellten Widersprüche fest und vermissten Schilderungen von Details, die auf Glaubwürdigkeit hindeuten. Ali J. sagt, er habe Schreckliches erlebt, er sei traumatisiert. Deshalb könne es sein, dass er seine Geschichte nicht immer gleich geschildert habe. Als Beweis, dass er die Wahrheit sagt, packt er aus seinem Rucksack eine Mappe mit Dokumenten. Darin befinden sich ein Gerichtsurteil des Strafgerichts von Teheran und eine deutsche Version, die ein Basler Übersetzungsbüro mit Unterschrift und Stempel bestätigt hat. Darin steht, Ali J. sei wegen gesetzeswidrigen Grenzübertritts zwischen dem Iran und dem Irak im Juli 2015 verhaftet und im Juni 2016 verurteilt worden. Ein Richter sprach das Urteil «im Namen des Erhabenen».
Zurück in der Schweiz hatte Ali J. keine Unterkunft mehr und übernachtete in der Jugendherberge St. Alban. Dort entdeckte ihn der Fahndungsdienst der Basler Kantonspolizei bei einer Kontrolle, nahm ihn aber nicht fest.
Ali J. meldete sich danach freiwillig an der Empfangspforte der Basler Staatsanwaltschaft und gestand, trotz seines Flüchtlingsstatus ein Jahr die Schweiz verlassen zu haben. Die Staatsanwaltschaft delegierte den Fall an die Fachgruppe 9, das kantonale Büro des Nachrichtendienstes. In der Befragung erzählte Ali J. die Geschichte vom iranischen Geheimdienst, die ihm niemand glaubte, und landete danach im Ausschaffungsgefängnis. Eine Richterin eröffnete ihm, dass er in einer Woche in einem Flugzeug zurück in den Irak sitzen werde. Doch nach einem halben Jahr kam er frei.
Der Grund für die Freilassung von Ali J. ist aussergewöhnlich. In seinem Fall spielt es keine Rolle mehr, ob seine Version der Geschichte oder jene der Schweizer Behörden die richtige ist. Die Medien berichteten schweizweit, dass Ali J. vom Geheimdienst als IS-Terrorverdächtiger eingestuft wurde. Die Schweizer Justiz geht davon aus, dass diese Nachrichten auch von den irakischen Behörden gelesen werden und Ali J. nach einer Rückschaffung deshalb Folter droht. Damit er im Irak nicht in Gefahr ist, muss nun die von ihm ausgehende potenzielle Gefahr in der Schweiz in Kauf genommen werden.
Gleichzeitig droht die Einschätzung des Nachrichtendienstes zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden, je länger Ali J. hier ohne sinnvolle Beschäftigung herumsitzt. Er lebt von 360 Franken Nothilfe pro Monat, darf weder arbeiten noch studieren. Er sagt: «Wenn ich eine Mission hätte, hätte ich sie längst umgesetzt.» Er wolle nur eines: ein normales Leben führen, eine Familie gründen, studieren. Jeder habe ein Recht auf Bildung.
Die Hoffnung habe er nicht aufgegeben, sein Glaube helfe ihm dabei, sagt Ali J. Seine Tage in Basel verbringe er mit joggen, Outdoor-Fitness, lesen, Fussball spielen und damit, alten Schulstoff aufzufrischen. «Niemand kann sich in mich hineinversetzen», sagt er. Mit seiner Erzählung beantwortet er viele Fragen, doch er wirft noch mehr neue auf. Nach einem dreistündigen Gespräch sagt er, er möchte seine Geschichte so stehen lassen und keine weiteren Fragen beantworten. Dann radelt er davon. Zurück bleibt ein Verdacht.