Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte ein Zürcher Physiker und IT-Spezialist Beschwerde erhoben gegen die Art und Weise, wie sich die Ostschweizer Kantone in den NDG-Abstimmungskampf eingemischt hatten. Jetzt gab das Bundesgericht dem Beschwerdeführer zwar teilweise Recht – so richtig freuen kann er sich aber nicht. Ein Treffen.
04.01.2017, 14:3605.01.2017, 03:46

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Daniel Muster existiert
tatsächlich. Er ist keine Erfindung eines Bürokratengehirns, die die Leerstellen beim Namen auf Kreditkarten- und ID-Vorlagen ausfüllen muss. Daniel Muster existiert, nur wusste
das bis zum 29. Dezember kaum jemand. Dann erschien das
Bundesgerichtsurteil 1C_455/2016 in Sachen «Beschwerde gegen den
Beschluss vom 14. September 2016 des Regierungsrats des Kantons
Zürich».
«Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, dem Stimmvolk die anderen Seiten des NDG zu präsentieren.»
Daniel Muster
Drei Monate nach dem
gescheiterten Referendum gegen das Nachrichtendienstgesetz NDG
stellte das Bundesgericht fest: Die Ostschweizer Justizdirektoren
haben sich unzulässig in den Abstimmungskampf eingemischt, indem sie
in einer Medienmitteilung im Vorfeld der Abstimmung ihre Unterstützung
für das umstrittene Gesetz bekundeten.
In dem beanstandeten Kommuniqué vom 31. August hiess es: Die OJPD – dazu gehören die
Kantone Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus,
Graubünden, Schaffhausen, St.Gallen, Thurgau, Zürich – «unterstützt die Vorlage für das Nachrichtendienstgesetz
einstimmig».
Auszug Bundesgerichtsentscheid

Bild: screenshot/bger
Die Intervention der OJPD, so das Bundesgericht, sei mit
der Abstimmungsfreiheit unvereinbar. Nur die Intervention des Zürcher Regierungsrats sei aufgrund besonderer Betroffenheit zulässig gewesen, da in Zürich zahlreiche Grossanlässe stattfänden und der Kanton mit dem Flughafen und dem grössten Bahnhof potentielle Anschlagsziele für Terroristen böte.
Trotzdem wies das Bundesgericht die Beschwerde ab. «Stellt das
Bundesgericht im Vorfeld einer Abstimmung oder bei deren Durchführung
Mängel fest, so hebt es den Urnengang nur auf, wenn die gerügten
Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst
haben können.» Das Ergebnis aber war überdeutlich: 65,5 Prozent
der Stimmberechtigten sagten Ja zu einer schärferen Überwachung, in
allen Ostschweizer Kantonen lag der Stimmenanteil über 60 Prozent.
Was eine Bombe hätte sein
können, war ein laues Lüftchen, ein Neujahrsheuler, zwei Tage zu
früh gezündet. Daniel Muster, Inhaber einer IT-Sicherheitsfirma und
Spezialist für verschlüsselte Kommunikation im Netz, war der
Beschwerdeführer. Jetzt, fünf Tage nach der Publikation des
Entscheids, sagt er, er sei froh, dass es so herausgekommen ist. «Stellen Sie sich vor, die Beschwerde wäre gutgeheissen worden,
die Abstimmung hätte wiederholt werden müssen und in der
Zwischenzeit wäre die Schweiz Ziel eines Terroranschlags gewesen.» Aber eigentlich will er sich gar nicht vorstellen, was dann auf ihn,
den Verhinderer des NDG, zugekommen wäre.
«Die Ängste der Menschen sind zu respektieren.»
Daniel Muster
Muster ist kein
fanatischer Überwachungsgegner. Er gehörte nicht zum Kernteam der
NDG-Gegner. Seine Website, auf der er die Nachteile des NDG
auflistete, lautete bezeichnend-neutral: www.zum-ndg.ch. Er gehöre
keiner Partei an und wo er politisch zu verorten ist, das will er
nicht verraten. Nur so viel: Der «gutschweizerische Kompromiss»,
der liege ihm am Herzen. Gäbe es eine Partei, die den ausgewogenen
Dialog in ihrem Programm festgeschrieben hätte, Muster wäre wohl
Mitglied.
Ohne Unterstützung der
NDG-Gegner reichte Muster am 2. September 2016, drei Wochen vor
der Abstimmung, die Beschwerde ein. Nicht, weil er gegen ein neues
Nachrichtendienstgesetz sei, so Muster. Sondern, weil er gegen dieses
Nachrichtendienstgesetz sei. «Es war ein letzter, verzweifelter
Versuch, dem Stimmvolk die anderen Seiten des NDG zu präsentieren.» Die anderen Seiten, das sind etwa das Arzt- und Anwaltsgeheimnis, das
Muster durch das Überwachungsgesetz gefährdet sieht. Oder, dass
Schwerverbrecher im Ausland geschützt werden könnten. Oder, dass
laut Muster im Zusammenhang mit dem NDG gespeicherte Daten auch für
andere Delikte genutzt werden könnten. Bagatelldelikte, der
Schoggistängeli-Fall.
Es sind die schwammigen Ausführungen, die
unklaren Bestimmungen des Überwachungsgesetzes, die gemäss Muster
das «Potential haben, der Sicherheit der Schweiz zu schaden» und
die ihn dazu bewogen haben, bis vors Bundesgericht zu ziehen.
Alleine.
Kosten sind dem
53-Jährigen keine entstanden, das Bundesgericht erhob keine
Gerichtskosten, nur vorschiessen habe er müssen. Verloren hat er nichts. Ausser
ein bisschen Zeit. Gewonnen hat er vielleicht die Anerkennung von
Leuten wie Martin Steiger, IT-Rechtsanwalt und eines der
Aushängeschilder des NDG-Nein-Bündnisses. «Interessant», nennt
Steiger das Urteil. Interessant einerseits, weil es sich beim
Bundesgerichtsurteil um einen gut begründeten Grundsatzentscheid
handle, der «in Zukunft relevant sein könnte, wenn etwa die
umstrittene Kabelaufklärung vor Bundesgericht landet.» Interessant
anderseits, weil das Bundesgericht mit seiner Begründung die «Abstimmungspropaganda des Bundesrats eins zu eins übernahm». «Matchentscheidend», das räumt Steiger ein, sei die Einmischung
der Ostschweizer Kantone aber nicht gewesen.
«Die Ängste der Menschen sind zu
respektieren», sagt Muster. Es liege ihm fern, den demokratischen Entscheid zu kritisieren, er wünschte sich bloss, die Menschen seien sich
ein bisschen bewusster, dass sie in einer «Scheinsicherheit» lebten. Scheinsicherheit, das ist für ihn, den diplomierten
Physiker, dass man nun zwar ein überbordendes
Nachrichtendienstgesetz habe, aber noch immer problemlos mit auf
unterschiedlichen Namen lautender Bordkarte und Identitätskarte ein
Flugzeug besteigen könne.
Muster, breite Schultern, kantiges Gesicht, sonore Stimme, sagt Sätze wie:
«Es gibt kein richtig und falsch». Oder: «Einfache Lösungen
existieren nicht.» Nur wenn es um seine Kernkompetenz, die digitale
Verschlüsselung, geht, gibt er die Zurückhaltung auf: «Mumpitz» nennt Muster etwa die Behauptung, dass die elektronische Signatur,
die digitale Unterschrift zur Identifikation einer Person, genutzt werden könne.
Muster ist ein
Einzelkämpfer, eine Ein-Mann-Armee. Im Gegensatz zu den
«lone wolf»-Attentätern, die das neue NDG explizit ins Visier nimmt,
ist er aber einer, dessen Sprengkraft begrenzt ist. Und einer, der die
grosse Bühne nicht sucht – bezeichnenderweise fand die Diskussion
um die Einmischung der Kantone im Abstimmungskampf denn auch weitgehend hinter den Kulissen
statt. Dass es überhaupt eine Beschwerde gab, erfuhren viele erst aus
den Medien. Fredy Fässler etwa, Justizdirektor des Kantons St.Gallen, oder Cornelia Komposch, die
Thurgauer Polizei-und Justizdirektorin, die sich im «St. Galler
Tagblatt» überrascht zeigte ob des Entscheids. Christian Rathgeb, Präsident der OJPD, sagte auf Anfrage, er habe das Urteil mittlerweile erhalten. Eine Stellungnahme will der Bündner Regierungsrat aber, wenn überhaupt, erst im März abgeben.
Und jetzt? Ist Musters
Kampf gegen eine unverhältnismässige Überwachung vorbei? Muster
schweigt einen Moment und zieht dann den Vergleich zur Abschaffung der Todesstrafe im Schweizer Strafgesetz. «Das ging nicht von heute auf morgen, sondern erfolgte schrittweise». Muster hofft, dass auch beim NDG mit der Zeit und mit der Erfahrung eine ausgewogenere Lösung gefunden wird. Auch wenn es keine einfache Lösungen gibt.
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