Sag das doch deinen Freunden!
Am Anfang sah es miserabel aus für die Gegner. In einer ersten Umfrage vom letzten Oktober wollten 66
Prozent der Befragten die Durchsetzungs-Initiative annehmen. Für eine
wirkungsvolle Nein-Kampagne fehlte das Geld. Die Wirtschaft und ihre
Verbände wollten ihre Kassen für den Kampf gegen das SVP-Begehren
nicht öffnen. Bürgerliche Spitzenpolitiker tönten resigniert. «Es
wird sehr schwierig, diese Initiative noch zu bodigen», sagte
CVP-Präsident Christophe Darbellay dem «Blick».
Kunststück: Wer
will sich schon für «kriminelle» Ausländer stark machen?
Seither aber tat sich Wunderliches. Es entwickelte sich ein Abstimmungskampf, wie ihn die Schweiz noch nie erlebt hat. Eine breite Allianz aus NGOs, Juristen, Kirchenvertretern, Künstlern und Mitgliedern der Zivilgesellschaft machte gegen die SVP und ihre Initiative mobil. Der vom Publizisten Peter Studer lancierte «dringende Aufruf» sammelte mehr als eine Million Franken für eine Plakat- und Inseratekampagne, die ihren Zweck erfüllt: Sie lässt nicht kalt, sondern polarisiert.
Entwicklung der Stimmbeteiligung #28F in der Stadt Zürich - im Vergleich zu jener vor der #MEI. #CHvote #abst16 pic.twitter.com/bMYTLTVAPn
— Claude Longchamp (@claudelongchamp) 19. Februar 2016
Der wichtigste Kanal
für die Initiativgegner sind die sozialen Medien, die sie intensiv
bespielen. Mit verblüffendem Erfolg: In den neusten Umfragen von SRG
und 20 Minuten ist das Nein-Lager erstmals stärker als die
Befürworter. Noch hat es die Abstimmung nicht gewonnen, aber die
Indikatoren deuten auf ein Nein am 28. Februar hin. Dafür spricht
auch die bislang überdurchschnittlich hohe Stimmbeteiligung in den
Städten, wo die SVP hartes Brot isst.
Man staunt.
Ausgerechnet in einem ihrer Kernthemen droht der SVP eine böse
Niederlage. Euphorische Gemüter sehen in der Nein-Kampagne bereits
eine Art Blaupause für künftige Erfolge bei ähnlichen Vorlagen.
Dies dürfte verfrüht sein, dennoch stellt sich eine drängende
Frage: Wie ist es möglich, dass die SVP die Deutungshoheit über
ihre eigene Initiative verloren hat?
Ein wichtiger
Aspekt, wenn nicht der wichtigste, sind die Emotionen. Die SVP spielt
in der Regel virtuos auf dieser Klaviatur, während die Empörung ihrer Gegner verpufft. Im aktuellen Fall aber
stossen die Emotionen des Nein-Lagers auf grössere Resonanz. «Sie
kommen nicht nur bei den bereits Bekehrten an, sondern auch bei ‹eingemitteten› Menschen», sagt der Politgeograf Michael
Hermann. Die Argumente der SVP hingegen wirkten defensiv.
Tatsächlich fragen
sich selbst Befürworter der Initiative, ob sie nicht zu weit geht.
Wie ist so etwas möglich? Kaum jemand hat Sympathien für
straffällig gewordene Menschen, insbesondere Ausländer.
Michael Hermann
schildert es so: «In Abstimmungskämpfen
entstehen zwei Dynamiken: Entweder wird ein Problem grösser gemacht,
als es ist. In einem solchen Fall steigt die Zustimmung. Beispiele
sind die Minarett- und die Masseneinwanderungs-Initiative. Oder die
Nebenwirkungen treten nach anfänglicher Sympathie in den
Vordergrund. Dann nimmt die Zustimmung ab. Davon betroffen sind linke
Initiativen oder im aktuellen Fall die Heiratsstrafe.»
Bei der
Durchsetzungs-Initiative kämen beide Dynamiken ins Spiel, sagt
Hermann: «Die kriminellen Ausländer werden zum Thema, aber auch
die Auswirkungen der Initiative auf das ganze System.» Das
Ungewöhnliche im aktuellen Fall: Der zweite Effekt ist stärker als
der erste. Hermann verweist auf die Flops der SVP mit
institutionellen Initiativen wie der Volkswahl des Bundesrats: «Den
Gegnern ist es gelungen, aus einem Ausländerthema eine
institutionelle Debatte zu machen.»
Der Schlüssel zu
dieser ungewöhnlichen Entwicklung liegt für den Politgeografen in
einem Begriff: Common Sense. Oder gesunder Menschenverstand. Die SVP
nimmt ihn gerne für sich in Anspruch, doch dieses Mal haben ihn die Gegner auf ihrer Seite. «Sie konnten aufzeigen, dass die
SVP es übertrieben und einen Pfusch abgeliefert hat», sagt
Hermann.
Deshalb deutet alles
daraufhin, dass eine Ausländervorlage der SVP für einmal jenes
Schicksal erleidet, das sonst linken Initiativen vorbehalten ist.
Das Nein-Lager aber will bis zuletzt dran bleiben. «Wir planen eine
Schlussoffensive, mit der wir junge Wähler ansprechen wollen, damit
uns keiner durch die Lappen geht», sagt Flavia Kleiner, die
Leiterin der NGO-Kampagne. Gleichzeitig hofft sie, dass kein
Negativereignis wie ein neuer «Fall Köln» alle Bemühungen
zunichtemacht.
Michael Hermann ist
deswegen nicht sonderlich beunruhigt: «So etwas hätte keinen
grossen Einfluss mehr. Die meisten Leute haben bereits abgestimmt.» Auch wenn wie üblich erst am Schluss abgerechnet wird: Ein Nein
bleibt das wahrscheinliche Ergebnis.