Warum die Schweizer Stromer voll auf grünen Wasserstoff setzen
Lange war Energie im Überfluss und billig verfügbar. Deshalb wurde gerade in der Schweiz viel zu wenig für die künftige Energieversorgung unternommen. Beim Zubau der erneuerbaren Energien gehörte sie im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern. Die Stromkonzerne investierten lieber in ausländische Projekte wie Offshore-Windanlagen.
Die aktuelle Energiekrise, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und den russischen Gaslieferstopp nach Europa, hat die Problematik schlagartig verschärft. In aller Eile hat der Bund Sparpläne entwickelt, die teilweise für Befremdung sorgten. Auch die Politik hat den Handlungsbedarf erkannt, wie die vom Parlament beschlossene Solaroffensive zeigt.
In den Fokus rückt die Frage, wie sich langfristig eine sichere und gleichzeitig klimaneutrale Energieversorgung realisieren lässt. Einen Denkanstoss liefert die am Dienstag vorgestellte Studie «Energiezukunft 2050», die der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke (VSE) zusammen mit der Empa erstellt hat. Sie liefert eine wissenschaftlich modellierte Grundlage.
«Tragende Säule» für Winterstrom
Denn es gilt sehr rasch vieles aufzuholen, was bislang versäumt wurde. Ein Aspekt wirkt dabei auf den ersten Blick überraschend: Für die Versorgungssicherheit vor allem im Winter soll grüner Wasserstoff zu einer «tragenden Säule» neben Wasserkraft und Photovoltaik werden. Bislang galt Wasserstoff für die Schweiz als zweitrangige Energiequelle.
Zu gross schienen die Nachteile. So haben mit Wasserstoff betriebene Autos einen deutlich geringeren Wirkungsgrad als Elektromobile. Die Produktion ist aufwändig, und Wasserstoff gilt als nicht unproblematischer Energieträger. Fachleute allerdings erachten dieses Problem als aufgebauscht und Wasserstoff für nicht gefährlicher als Erdöl, Gas oder Uran.
Schweiz nur beschränkt geeignet
Die Verwendung von Wasserstoff zum Heizen oder Autofahren mittels Brennstoffzelle steht für die Elektrizitätswerke ohnehin nicht im Zentrum. «Primär wird der importierte grüne Wasserstoff in Gaskraftwerken zur Stromproduktion verwendet», heisst es in der Studie. Im bestmöglichen Szenario könnten damit 20 Prozent des Winterbedarfs gedeckt werden.
Klar ist, dass die Schweiz nur beschränkt grünen Wasserstoff herstellen kann. Allenfalls ist dies im Sommer möglich, wenn mehr Strom produziert als verbraucht wird. Der grösste Teil muss deshalb eingeführt werden. Der VSE setzt dabei auf «die entstehende europäische Wasserstoffinfrastruktur».
Ehrgeizige Ziele der EU
Die Europäische Union setzt sich im Rahmen ihres Green Deals ehrgeizige Ziele. Sie hat die Europäische Allianz für sauberen Wasserstoff ins Leben gerufen und will schon 2030 durch Elektrolyse mindestens 40 Gigawatt erzeugen. Die gleiche Menge soll von ausserhalb der EU stammen, vor allem aus den sonnenreichen Regionen in Nordafrika und Nahost.
Konkrete Pläne existieren im Sultanat Oman. Es will mit Solarenergie im grossen Stil grünen Wasserstoff produzieren. Erst kürzlich wurde eine erste Ausschreibungsrunde lanciert. Der Wasserstoff könne über bestehende Terminals für Flüssiggas (LNG) exportiert werden, sagte VSE-Direktor Michael Frank an der Medienkonferenz vom Dienstag in Bern.
Verteilnetz muss erst entstehen
Noch existiert kein Wasserstoffnetz in Europa. Dennoch könne «mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass ein solcher Backbone in Europa entstehen wird», so die Studie. Empa-Forscher Matthias Sulzer ist überzeugt, dass grüner Wasserstoff «ab 2040 in grossen Mengen über eine europaweite Infrastruktur verfügbar sein wird».
Diesen Optimismus teilen längst nicht alle, doch gerade die derzeitige Energiekrise kann den Wasserstoffplänen der EU einen Schub verleihen. Kritiker zweifeln zudem, dass genügend grüner Wasserstoff verfügbar sein wird und man allenfalls weiterhin auf «grauen» Wasserstoff angewiesen sein wird, der aus Erdgas oder Methan erzeugt wird.
Elektrolyse mit hoher Effizienz
Als klimaneutral kann man dies nicht bezeichnen. Die Studienautoren von VSE und Empa sind trotzdem vom Potential des grünen Wasserstoffs überzeugt. Seine Herstellung benötigt wesentlich weniger Energie als jene von synthetischen Treibstoffen. Und die Elektrolyse, also die Aufspaltung von Wasser, hat eine vergleichsweise hohe Effizienz.
Noch bleiben Unsicherheiten, ob Wasserstoff bei der Energieversorgung 2050 die Rolle spielen wird, die ihm die Studie einräumt. Aber die meisten Alternativen überzeugen nicht, etwa die Kernenergie. Heutige Reaktortypen könne man vergessen, meinte ein Branchenvertreter am Rande der Medienkonferenz: zu teuer, zu geringe Akzeptanz.
Energieabkommen mit der EU
Die von Bill Gates und anderen propagierten Small Modular Reactors (SMR) sind derzeit nicht mehr als ein Versprechen. Auf sie zu wetten, wäre ziemlich riskant. Und bis mit der Kernfusion zuverlässig und günstig Energie in grossen Mengen produziert werden kann, ist es trotz der am Dienstag verkündeten «Sensation» noch ein sehr weiter Weg.
Bleibt als wohl grösstes Hindernis die Integration der Schweiz in den europäischen Wasserstoffverbund. Für Michael Frank ist klar, dass die Schweiz mit der EU nicht nur ein Strom-, sondern ein Energieabkommen benötigt. Und dafür müssen nach Ansicht der Brüsseler EU-Kommission erst die institutionellen Fragen geklärt werden.
Konkret braucht es ein Rahmenabkommen, und damit tut sich die Politik schwer. Ob sie auf die mahnenden Worte der Strombranche hören wird, darf man bezweifeln. Sie ist mit diesem Anliegen bisher auf taube Ohren gestossen.
- Die Schweiz braucht bis 2050 viel mehr Strom – übernehmen Sie, Herr Rösti!
- Neues Energie-Dashboard für die Schweiz ist online – noch fehlen aber verlässliche Daten
- Anwohner verhindern geplanten Bau von Wasserstoff-Produktion im Zürcher Unterland
- Rund ein Drittel will wegen des Strommangels und hohen Stromkosten kein Elektroauto kaufen
- Strommangellage ist das Deutschschweizer Wort des Jahres


