Die gescheiterte Ehe gipfelt in einem erbitterten Streit um die Kinder – und bei binationalen Paaren regelmässig in Entführungen. Rund 100 Kinder werden jedes Jahr von ihren eigenen Müttern und Vätern von der Schweiz ins Ausland gebracht, um sie dem Ex-Partner oder der Ex-Partnerin zu entziehen.
Der Bundesrat hat letzte Woche neue Massnahmen im Kampf gegen die Kindesentführungen beschlossen. Künftig sollen Eltern ihre Kinder präventiv im Schengener Informationssystem SIS ausschreiben können. Ein entsprechender Verdacht muss jedoch durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) und die Polizei bestätigt werden. Bis anhin landeten Kinder erst nach einer bereits erfolgten Entführung im SIS – als vermisste Personen.
Besteht erhöhte Entführungsgefahr, können Kinder bereits heute im nationalen Fahndungssystem Ripol ausgeschrieben werden. Will ein Entführer von der Schweiz aus den Schengenraum verlassen, würde im Ripol ein Treffer aufleuchten. Dieses Problem können Täter derzeit relativ einfach umgehen: Es genügt, zuerst in einen anderen Schengenstaat, zum Beispiel Deutschland, zu reisen, um danach von dort aus das Weite zu suchen. Mit den neuen Regeln würden Entführer auch bei diesem Szenario gestoppt. Denn die Sicherheitsbehörden klären bei allen Personen, die den Schengenraum verlassen, automatisch ab, ob sie im SIS eingetragen sind oder nicht.
Was aber passiert, wenn es zu einer Kindsentführung gekommen ist? Die Schengen-Staaten gehören zu den rund 100 meist westlichen und südamerikanischen Staaten, die das Haager Übereinkommen zur Kindesentführung unterzeichnet haben. Wird ein Kind in einen Vertragsstaat gebracht, kann der zurückgebliebene Elternteil einen Antrag auf Rückführung stellen. Die Chancen, wieder mit seinem Kind leben oder zumindest in Kontakt treten zu können, stehen gut.
Anders präsentiert sich die Lage bei Ländern, die dem Haager Übereinkommen nicht beigetreten sind. Wenn der Entführer oder die Entführerin nicht einlenkt, sieht der allein gebliebene Elternteil seine Kinder im schlimmsten Fall nie wieder. So versteckt etwa ein nigerianischer Vater seit Jahren seine zwei Buben vor seiner Ex-Frau, die unterdessen den Schweizer Pass hat.
Der internationale Sozialdienst Schweiz vermittelt unter anderem bei Fällen, in denen Kinder in Nicht-Vertragsstaaten gebracht werden. Aus solchen Ländern sei eine Rückkehr der Kinder in die Schweiz fast unmöglich, sagt Stephan Auerbach, Abteilungsleiter und Mediator des Sozialdienstes. Der Sozialdienst versuche in solchen Fällen, mit seinen Partnerorganisationen vor Ort Hausbesuche zu organisieren und Elternbesuche vor Ort zu ermöglichen.
Francine Hungerbühler kümmert sich beim Bundesamt für Justiz um internationale Kindesentführungen im Rahmen des Haager Abkommens. Sie begrüsst die Möglichkeit, Kinder präventiv im Schengener Informationssystem SIS auszuschreiben: «Dies kann dazu beitragen, Entführungen durch einen Elternteil zu vereiteln.»
Im Jahr 2017 erreichten die Schweiz übrigens 62 Anträge aus dem Ausland um die Rückführung von Kindern gemäss Haager Übereinkommen. Rund ein Viertel davon stammte von den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien. Anträge ausserhalb des Schengenraums sind in der Minderzahl.
Als Vorsichtsmassnahme können Kinder, Jugendliche und Erwachsene neu auch im SIS ausgeschrieben werden, wenn ihnen Zwangsheirat, Menschenhandel oder weibliche Genitalverstümmelung droht. Die Fachstelle Zwangsheirat prüft derzeit die Auswirkungen der neuen Regeln. «Gerade Heiraten mit Minderjährigen werden oft im Ausland geschlossen, um die Gesetze in der Schweiz zu umgehen», sagt Anu Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat. Schutzmassnahmen für Betroffene stünden für die Fachstelle im Vordergrund. Wenn internationale Lösungen dazu einen Beitrag leisteten, sei das zu begrüssen.»
Die Fachstelle berät als Kompetenzzentrum des Bundes in der Schweiz jährlich rund 300 Personen, die zwangsverheiratet worden sind oder denen dieses Schicksal blüht. Rund ein Drittel davon sind minderjährig, mehr als 80 Prozent Frauen. Gemäss der Bundesstudie zu Zwangsheiraten von 2012 sind in der Schweiz die häufigsten Herkunftsländer der Betroffenen die Türkei, Sri Lanka oder Balkanländer wie Kosovo oder Mazedonien. Nicht immer wissen die Betroffenen, dass eine Reise ins Ausland mit einer unerwünschten Hochzeit endet. In solchen Fällen würde auch eine Ausschreibung im SIS nicht helfen.
Präventiv im SIS erfasst werden können auch Kinder, die Opfer von terroristischen Straftaten werden könnten. Minderjährige, die Dschihadfantasien in einem Konfliktgebiet ausleben möchten, landen – auf Antrag der Eltern – zum Selbstschutz auch in der Datenbank und werden mit einer Ausreisesperre belegt.
All die erwähnten Massnahmen sind Teil eines Gesamtpakets, mit dem der Bundesrat die innere Sicherheit und die Terrorismusabwehr verstärken will. Als Schengen-Mitglied muss die Schweiz die neuen Bestimmungen der EU übernehmen. Unter anderem müssen neu Personen im SIS ausgeschrieben werden, von denen potenziell eine Terrorgefahr ausgeht. (aargauerzeitung.ch)