Ein Wintertag im Januar 2010, es ist 9:30 Uhr. Die Arbeitsgruppe Online-Glücksspiele des Justizdepartements tagt zum ersten Mal. Man lernt sich kennen. Fünf Fachleute sitzen am Tisch, sie sollen sich im Auftrag des Bundesrates über ein neues Problem beugen. Das Glücksspiel im Internet zieht immer mehr Menschen in seinen Bann. Das Geld fliesst zunehmend in die Kassen von ausländischen Anbietern; den Schweizer Casinos ist der Betrieb von Online-Plattformen bisher nicht erlaubt.
Auch Lotterie-Boss Roger Fasnacht, einer der Anwesenden, ist von der internationalen Konkurrenz betroffen. Er macht schon bei der ersten Diskussionsrunde klar, wer für ihn der Feind ist: Die Online-Casinos, Wett- und andere Glückspiel-Plattformen aus dem Ausland, die ihr Angebot auch Schweizer Kunden zugänglich machen. Der Swisslos-Direktor nennt sie «Gesetzesbrecher».
Das Zitat stammt aus einem Fundus von Sitzungsprotokollen und anderen Dokumenten, die Jungfreisinnigen-Chef Andri Silberschmidt beim Justizdepartement gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip eingefordert und erhalten hat. Sie liegen dieser Zeitung vor. Die beschriebene Episode aus dem Sitzungsprotokoll sagt viel über die Entstehung des neuen Geldspielgesetzes aus. Es ist eine Geschichte, die im Abstimmungskampf vom Lager der Befürworter gerne ausgeblendet wird – die Geschichte einer äusserst erfolgreichen Lobbying-Operation der Schweizer Casinos und Lotto-Gesellschaften.
Die Arbeitsgruppe Online-Glücksspiele ist eines von mehreren Expertengremien, die ab Beginn des Jahrzehnts die neue Geldspiel-Politik des Bundesrates vorbereiten. Die Gruppe befasst sich mit allen Fragen, welche die «telekommunikationsgestützte Durchführung von Glücksspielen im Internet» betreffen. Sie wird für die Schweizer Geldspiel-Lobby zwischen 2010 und 2012 zu einem Vehikel für den Aufbau eines neuen Wettbewerbsvorteils: die Abschottung des Schweizer Online-Marktes gegenüber bereits aktiven Glücksspiel-Plattformen aus dem Ausland.
Diese sollen, so sagt es Lotto-Boss Fasnacht laut Sitzungsprotokoll vom Januar 2010, nach der Legalisierung «nicht zum Zug kommen». Mit anderen Worten: Die ausländische Konkurrenz soll vom Schweizer Markt ausgeschlossen werden. Das Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, steht früh fest. «Die Möglichkeit, einzelne Seiten zu sperren, sollte in die künftige Regelung aufgenommen werden, unabhängig davon, ob sie technisch bereits möglich ist», befindet die Arbeitsgruppe im September 2010.
Für den Jungfreisinnigen Andri Silberschmidt und die anderen Gegner des Geldspielgesetzes belegen die Dokumente, dass sich der Bundesrat vor den Karren der Casinos und Lotteriegesellschaften spannen lassen hat. Tatsächlich beinhaltet das Gesetz, das am 10. Juni zur Abstimmung gelangt, in wesentlichen Zügen Vorschläge aus dem Schlussbericht der Arbeitsgruppe Online-Glücksspiele: Erstens verbietet die Vorlage ausländischen Online-Anbietern eine Tätigkeit in der Schweiz. Zweitens dürfen die Behörden ihre Internetpräsenzen auf eine schwarze Liste setzen und sperren, um sie vom Schweizer Markt fernzuhalten.
Die Papiere stellen infrage, inwiefern es sich bei diesen umstrittenen Massnahmen um den breit abgestützten Kompromiss handelt, von dem Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) diesen Freitag in einem Interview mit der «Nordwestschweiz» sprach.
Doch zurück zu den Sitzungen der Arbeitsgruppe Online-Glücksspiele: Aus den Protokollen geht hervor, dass die Geldspiel-Lobby zwei von fünf Mitgliedern des Gremiums stellte. Neben dem Swisslos-Chef figurierte der Rechtsanwalt George Häberling als Vertreter des Casino Verbandes auf der Teilnehmerliste. Den beiden gegenüber standen drei Behördenvertreter. Die Arbeitsgruppe hielt laut den Protokollen innerhalb von zweieinhalb Jahren über 30 Sitzungen ab. Fasnacht und Häberling verpassten im Gegensatz zu den Beamten keine einzige.
Besonders der Swisslos-Direktor spielte eine dominante Rolle. Er zog auch mal rote Linien, wenn er es für nötig befand, und spielte sich als Veto-Macht auf. Als das Gremium im Februar 2011 verschiedene Konzessionsarten für Online-Casinos diskutiert – darunter solche unter Einbezug von ausländischen Anbietern –, sagt er: «Es ist undenkbar, dass Anbieter, welche aus Schweizer Sicht illegal am Markt auftreten, künftig sozusagen mit einer Konzession belohnt werden.»
Er könne aufgrund seines Mandats der Kantone, das er als Swisslos-Chef habe, keine Zugeständnisse machen. Die Vertreterin der Eidgenössischen Spielbankenkommission argumentiert vergeblich, dass gerade mit der Einbindung ausländischer Anbieter das illegale Geldspiel eingedämmt werden könne. Die Geldspiel-Lobby setzt sich auch bei der Auswahl von Experten für die Anhörungen durch: «Die illegalen Anbieter sollen nicht begrüsst werden», steht im Protokoll.
Fasnacht versucht, die Arbeitsgruppe mitunter für taktische Manöver einzusetzen. An einer Sitzung im Mai 2010 warnt er davor, dass ausländische Online-Casinos «sich massiv mit Gutachten» gegen eine Einschränkung ihrer Aktivitäten wehren könnten, und schlägt deshalb präventiv den «Bezug von rechtlicher Unterstützung» vor, um mit eigenen Gutachten kontern zu können.
Die aus Sicht der Gegner des Geldspielgesetzes problematischen Netzsperren – die Sperrung von Internetseiten ausländischer Online-Casinos – sorgen in der Arbeitsgruppe kaum für Bedenken. Um mehr über verschiedene Sperr- und Blockierungsmöglichkeiten, über schwarze und weisse Listen, zu erfahren, lädt sie Experten aus Belgien, Frankreich und Italien ein.
Der Anwalt des Schweizer Casino-Verbandes etwa fragt den Vertreter der belgischen Spielkommission: «Woher kam das Know-how für die Erstellung der Sperrlisten?» Andere Informationen hingegen blendet man aus. Die Feststellung der Direktorin des dänischen Geldspiel-Rates, wonach Netzsperren «der grösste Stolperstein» in der öffentlichen Diskussion gewesen sei, beeindruckt die Teilnehmer nicht.
Jungfreisinnigen-Chef Silberschmidt fühlt sich durch die Casino-Protokolle in seiner Kritik an der Geldspiel-Lobby bestätigt. An die Adresse von Swisslos-Direktor Fasnacht und Casino-Rechtsbeirat Häberling sagt er: «Diese zwei Herren haben den Grundstein für das Monopol gelegt.»
Die «Schweiz am Wochenende» hat Swisslos-Chef Fasnacht und Casino-Vertreter Häberling um eine Stellungnahme gebeten. Häberling will mit Verweis auf das Anwaltsgeheimnis nicht einmal bestätigen, dass er für den Casino-Verband tätig war.
Fasnacht teilt mit: Die Kritik, dass sich die Bundesverwaltung von der Geldspiellobby instrumentalisieren liess, entbehre «jeglicher Grundlage». «Einerseits ist es üblich, dass betroffene Experten bei Gesetzgebungsarbeiten einbezogen werden. Andererseits waren weder die Spielbanken noch die Lotteriegesellschaften zufrieden mit dem von der Verwaltung erarbeiteten, in die Vernehmlassung gesandten Entwurf.» Zu seiner Rolle in der Arbeitsgruppe Online-Glücksspiele sagt Roger Fasnacht: «Die Experten aus der Branche waren nicht dominant, sondern in der Minderheit gegenüber drei Behördenvertretenden in dieser Gruppe.»
Auch bei Simonetta Sommarugas Justizdepartement versteht man Silberschmidts Kritik am Einfluss der Geldspiel-Lobby nicht. Die Arbeitsgruppe habe «in einer sehr frühen Phase» des Projekts Vorarbeiten für den Gesetzesentwurf gemacht, sagt Sprecher Guido Balmer, «nicht mehr und nicht weniger». Die Auslegeordnung möglicher Regulierungsmodelle sei in die weiteren Arbeiten am Geldspielgesetz eingeflossen.
Justizministerin Sommaruga beschrieb den Entstehungsprozess allerdings auch schon anders. In der Debatte im Ständerat fragte Andrea Caroni (FDP) im Sommer 2016, warum künftig eigentlich nur bestehende Casinos in der Schweiz legal Online-Glücksspiele anbieten dürfen sollen. «Ich sage es ganz direkt: Die Casinos haben sich hier durchgesetzt», antwortete die Bundesrätin.