Das von der Aargauer Zeitung veröffentlichte Video zeigt einen Arbeiter, der gelenkig über Baugerüste geht und Wände streicht. Während der Observation arbeitete er teilweise elf Stunden auf einer Baustelle. Dabei litt er gemäss Arztberichten angeblich unter grossen Schmerzen an Schulter, Rücken und Knie und konnte deshalb offiziell lediglich drei Stunden am Tag als Magaziner arbeiten.
Auch Aufnahmen eines arbeitsunfähigen, angeblich sozial isolierten Mannes, der sich gemäss Aussagen gegenüber seinen Ärzten nicht konzentrieren konnte und den Blickkontakt scheute, sind zu sehen. Er bewegt sich gekonnt auf Baugerüsten und tauscht sich dabei rege mit Arbeitskollegen aus.
Aufgenommen haben die Bilder Sozialdetektive im Auftrag von IV-Stellen. In beiden Fällen deckten sie erfolgreich Versicherungsbetrug auf. Die Einsparungen betrugen laut IV in den beiden erwähnten Fällen je eine halbe Million Franken. Ähnliche Videos veröffentlichte am Dienstagabend 20 Minuten. Sie stammen von einer nicht namentlich genannten Mitgliedsfirma des Schweizerischen Versicherungsverbands (SVV).
Die Aufnahmen bei der «Aargauer Zeitung» stammen aus dem Jahr 2011. Bei «20 Minuten» heisst es lediglich, die Videos seien schon «etwas älter». Sicher ist nur, dass sie vor Mitte 2017 gemacht wurden. Seither werden hierzulande keine Observationen durch Sozialdetektive mehr durchgeführt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die 2008 eingeführte Praxis wegen ungenügender gesetzlicher Grundlage verboten. Mit der Revision des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG), über die am 25. November abgestimmt wird, soll diese Grundlage geschaffen werden.
Das Video an das Medienunternehmen CH Media (zu dem die «Aargauer Zeitung» gehört) übergeben hat Andreas Dummermuth. Er ist Direktor der Ausgleichskasse Schwyz und Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen (KKAK). Man habe bei der Weitergabe der Videos die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen beachtet: «Niemand wird an den Pranger gestellt.» Deshalb habe man eine «professionelle Verpixelung» nach den Anforderungen des geltenden Medienrechts vorgenommen.
«Mit der Veröffentlichung dieser Aufnahmen von auffälligen Versicherten zeigen wir die Diskrepanz zwischen ihrem tatsächlichen Verhalten im öffentlichen Raum und den gegenüber Ärzten getätigten Aussagen», so Dummermuth. Die Videos zeigten auf, welche Zusatzinformationen eine Observation durch Sozialdetektive biete und dass davon alle Beitragszahler profitierten.
Beim Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten verurteilt man das jüngste Manöver der Sozialdetektive-Befürworter im Abstimmungskampf. «Die Weitergabe von Observationsvideos an Dritte ist nicht rechtens», sagt Hugo Wyler, Sprecher des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten.
Aufgrund der Bilder geht Wyler davon aus, dass sie an einem öffentlich einsehbaren Ort aufgenommen worden sind. «Die Aufnahmen dienen einzig und allein dem Zweck, den Versicherungsanspruch der observierten Personen zu überprüfen.» Die Sozialdetektive handelten ausschliesslich im Auftrag der Versicherungen: «Eine Weitergabe der Aufnahmen oder eine Verwendung für einen anderen Zweck ist nicht zulässig.»
Andreas Dummermuth wehrt sich. Die IV-Stellen hätten einen gesetzlichen Informationsauftrag: «Er verpflichtet uns, transparent und sachlich über die Arbeitsmethoden der IV-Stellen zu informieren.» Dieser umfasse auch, dass die Öffentlichkeit über früher zulässige Observationen informiert werde – wie in den Videos zu sehen: «Ohne diese Informationen kann sich der Bürger gar kein Bild davon machen.»
Ähnlich tönt es beim Schweizerischen Versicherungsband (SVV). Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger müssten erfahren können, wie Sozialdetektive Missbrauch in den Sozialversicherungen aufdecken. «Wir befinden uns in einem Abstimmungskampf», sagt SVV-Sprecher Takashi Sugimoto.
Für Dimitri Rougy vom Referendumskomitee sind die Videos ein «durchsichtiges Wahlkampfmanöver» der Befürworter. Sie versuchten mit der Weitergabe an die Medien, dem Abstimmungskampf einen neuen Dreh zu geben und die Debatte auf die Frage «Observationen: Ja oder Nein?» zu reduzieren. Die Stimmbürger müssten aber entscheiden, ob sie «ein schludrig geschriebenes und gefährliches Gesetz wollen oder nicht».
Weil die Argumente fehlten, griffen die Befürworter «in die SVP-Mottenkiste» und führten die Stimmbevölkerung mit den Videos hinters Licht, kritisiert Rougy: «Leute wie Andreas Dummermuth sind soziale Brandstifter.» Sie würden auf Minderheiten herumtreten und gefährdeten den sozialen Zusammenhalt.
Die Befürworter versuchen mit den Videos von den Mängeln der Vorlage abzulenken, glaubt Rougy. Die Aufnahmen verschwiegen etwa, dass Versicherungsdetektive mit dem neuen Gesetz neu auch ins Wohnzimmer filmen dürften und mehr Kompetenzen erhielten als die Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Bilder seien «bewusst irreführend» gewählt: «Sie sind im öffentlichen Raum gemacht worden. Dass Sozialdetektive dort im Verdachtsfall Versicherte filmen dürfen, stellt auch das Referendumskomitee nicht grundsätzlich in Frage».
Wie Befürworter oder Gegner zu einzelnen Teilen des Gesetzes stehen, sei irrelevant, kontert Befürworter Andreas Dummermuth. Den Vorwurf des Ablenkungsmanövers weist er von sich. Bei einem Referendum gehe es einzig um die einfache Frage, ob man einem Gesetz zustimmt oder es ablehnt: «Ein Abstimmungskampf ist kein Universitätsseminar».