Dieser Artikel wurde ursprünglich am 23. Dezember 2016 veröffentlicht. Zum Tod von Pfarrer Ernst Sieber publizieren wir ihn erneut.
Ein warmes Nest im kalten Winter: Der Pfuusbus beim Zürcher Albisgüetli bietet seit 14 Jahren Obdachlosen einen Unterschlupf für die Nacht. Er ersetzt vielen die Familie und spendet insbesondere auch in der Weihnachtszeit Geborgenheit und Wärme.
Es ist eng an diesem Abend im Vorzelt des Pfuusbusses. In der Ecke steht ein Tannenbaum, weihnachtlich geschmückt. Kerzen verströmen in der einfachen Einrichtung eine besinnliche Stimmung. Mitten drin steht «der Pfarrer», wie ihn hier alle einfach nennen - wie eh und je mit Schlapphut, wollenem Schal und weissem Bart.
Und obwohl Pfarrer Ernst Sieber am 24. Februar 2017 bereits 90 Jahre alt wird, kommt er ab und zu im Pfuusbus vorbei. Wie jedes Jahr hat er wenige Tage vor dem «offiziellen Termin» mit seinen Schützlingen Weihnachten gefeiert.
«Ernst ist für unsere Leute immer noch eine Identifikationsfigur», sagt Christian Klaus, langjähriger Mitarbeiter bei der Stiftung Sozialwerke Pfarrer Sieber (SWS). Der 69-Jährige ist Platzwart im Pfuusbus und verantwortlich für die Infrastruktur. Er ist fast täglich anwesend und für die Besucher eine wichtige Bezugsperson.
«Der Pfuusbus ist ein Familienersatz», sagt er denn auch. Sieber nennt ihn «den Mutterbauch», der Geborgenheit und Wärme spendet. «Es gibt keine Berührungsängste, wir sind eine Gemeinschaft», sagt der Pfarrer und umarmt Alex, einen der Obdachlosen. Menschen, die auf der Strasse leben, erhalten in den Wintermonaten eine Schlafmöglichkeit - und Gesellschaft.
Bei der Stiftung hat man sich zwar, als der in die Jahre gekommene Bus dieses Jahr ersetzt werden musste, kurz überlegt, eine andere - billigere - Lösung zu suchen. Man kam aber rasch von der Idee ab: Der Pfuusbus sei eine von den Obdachlosen sehr geschätzte Institution, begründet SWS-Sprecher Walter von Arburg.
Im 17 Meter langen Sattelschlepper stehen 40 Schlafplätze zur Verfügung - 15 im Bus neben der Wohnküche und 25 auf Matratzen im geheizten Vorzelt. Das Nachtlager ist zwischen 17 Uhr und 9 Uhr geöffnet. Freiwillige kochen jeden Abend eine warme Mahlzeit. Nacht für Nacht suchen derzeit rund 30 Personen dort Unterschlupf.
Die Frauen schlafen im vorderen Teil des Busses, möglichst nahe beim Personal. Sie machen aber einen kleinen Teil der Besucher aus, nur etwa 20 Prozent sind es im Durchschnitt. Im Moment ist es sogar nur eine, aber sie kommt seit drei Wochen jede Nacht. Im Pfuusbus nennen sie alle «das Grosi».
Die 72-Jährige geht an Stöcken, hat ein freundliches Gesicht. «Ich frage mich oft, was für eine Geschichte hinter ihr steckt», sagt Klaus. Auch wenn er jeden Morgen mit ihr einen Kaffee trinkt und ein paar Worte wechselt, ihre Herkunft bleibt ein Rätsel.
«Stelle verloren, Kampfscheidungen, nicht eingehaltene Termine, Geld weg», beschreibt Klaus mögliche Lebenswege von Gästen. Spätestens dann kämen oft Drogen- oder Alkohol- und auch psychische Probleme dazu. «Viele finden den Weg nicht mehr zurück.»
Die Stimmung im Bus ist familiär. Etwa zehn der Obdachlosen kommen schon seit mehreren Jahren, sie haben ihren festen Schlafplatz. «Unsere Langjährigen kriegen ein Bett im Bus», sagt Klaus. Wer beim Albisgüetli schlafen will, muss sich ausweisen. Name, Alter und letzter Aufenthaltsort werden beim Ankommen registriert.
Die Kontrolle macht der so genannte Hüttenwart. Er ist zusammen mit einem Mitarbeiter in der Nacht vor Ort. Auf einem Tablet sieht er, wem welcher Schlafplatz zugeteilt wurde oder wer schlecht geschlafen hat die letzte Nacht. Das Programm wurde vom Ehemann einer Mitarbeiterin speziell für den Pfuusbus entwickelt.
Festgehalten ist dort auch, wer ausgeschlossen wurde. «Es gibt ein paar Leute, die nicht tragbar sind», sagt Klaus. Auch wer schwer alkoholisiert ist, muss wieder gehen. Trotzdem gibt es ab und zu «Lämpen». Menschen auf Entzug oder mit psychischen Problemen sorgen manchmal für grosse Unruhe.
«Wir versuchen, sie zu beruhigen», sagt Klaus. Für die Freiwilligen sei dies eine grosse Belastungsprobe. Oft helfe es, vor dem Bus gemeinsam eine Zigarette zu rauchen. Der Platzwart hat dafür mit Geld von einem privaten Spender einen grossen Vorrat angelegt. Manchmal braucht es den Notfallpsychiater oder den Rettungsdienst.
«Die Zürcher sind sehr grosszügig», sagt der 69-Jährige. Immer wieder brächten Leute Lebensmittel oder auch warme Kleider vorbei. In zwei Bäckereien können SWS-Mitarbeitende für den Pfuusbus am Abend jeweils die nicht verkauften Brote und Kuchen abholen. «Süsses ist gerade bei Süchtigen sehr wichtig», hat Klaus festgestellt.
Innerhalb von nur vier Monaten war auch das Spendengeld für den neuen Bus, eine Occasion aus dem Jahr 2005, zusammengekommen. Die Sozialwerke hatten dafür eine Sammelaktion lanciert, bei der rund 120'000 Franken gespendet wurden.
Das Angebot ist sehr gefragt. Jedes Jahr nimmt die Zahl der Übernachtungen im Pfuusbus zu. 2015 waren 3800 verzeichnet worden, 700 mehr als 2014. Und auch in dieser Saison dürfte wieder ein neuer Rekord erreicht werden. Um den Betrieb aufrecht zu halten, sind gegen 100 Freiwillige im Einsatz.
Angefangen hatte alles 2002. Damals war der Obdachlosenpfarrer noch mit dem Sattelschlepper zu den Menschen gefahren, die kein Dach über dem Kopf hatten. Den Bus bekam er zum Freundschaftspreis von den Gebrüdern Güdel, den ehemaligen Seitenwagen-Vizeweltmeistern. (sda)