Schweiz
Gesellschaft & Politik

Familie aus Pakistan vor Abschiebung: «Unsere neue Heimat ist die Schweiz»

Die Pakistanerin Nazia Mehar und ihre drei Kinder Mohammed (13), Malika (10) und Zohaib (11) sollen ausgeschafft werden. Sie haben gegen den negativen Asylbescheid Beschwerde eingereicht.
Die Pakistanerin Nazia Mehar und ihre drei Kinder Mohammed (13), Malika (10) und Zohaib (11) sollen ausgeschafft werden. Sie haben gegen den negativen Asylbescheid Beschwerde eingereicht.
bil: Sandra Ardizzone

Familie aus Pakistan vor Abschiebung: «Unsere neue Heimat ist die Schweiz»

Einwohner setzen sich dafür ein, dass eine Mutter und ihre drei Kinder nicht nach Pakistan abgeschoben werden. Zurzeit ist eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht hängig.
16.07.2016, 11:1416.07.2016, 14:44
Martin Rupf / Aargauer Zeitung
Mehr «Schweiz»

Eigentlich hätten Nazia Mehar (37) und ihre drei Kinder Mohammed (13), Zohaib (11) und Malika (10) die Schweiz vergangenen Donnerstag verlassen müssen, nachdem ihr Antrag auf Asyl abgewiesen wurde.

Eigentlich: Denn nicht zuletzt dank der Unterstützung zahlreicher Ennetbadener hat die Familie gegen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde eingereicht. Das gibt der Familie wieder etwas Zeit und vor allem Hoffnung.

Die lange Reise ins Ungewisse begann für die Familie Mehar Ende 2014, als die Mutter mit ihren drei Kindern die Flucht aus Pakistan ergriff. Anfang 2015 – nach einer beschwerlichen Reise über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien – kam die Familie in der Schweiz an.

Angriff auf Schulbus der Kinder

Als Fluchtgrund gab die Mutter die Sorge um das Leben ihrer Kinder an. Den Befragungsprotokollen der Migrationsbehörden ist zusammengefasst folgende Geschichte zu entnehmen: Der Mann von Nazia Mehar verschwand vor ein paar Jahren.

In der Folge wohnte sie zusammen mit der Erstfrau ihres Mannes in der gleichen Wohnung. Immer wieder sei es zu Übergriffen dieser Frau, aber auch durch deren Sohn gekommen. Er habe Nazia gedroht, ihre Kinder umzubringen. Als Auslöser für die Konflikte vermutet Nazia das Erbe ihres Mannes, welches die Zweitfrau nicht mit ihrer Familie teilen wollte.

Trauriger Höhepunkt sei dann ein Angriff auf den Schulbus ihrer Kinder gewesen, der beschossen wurde. Nach diesem Ereignis stand für Nazia Mehar fest, Pakistan zu verlassen. Die Polizei zu Hilfe zu holen, kam für sie nicht infrage, da diese äusserst korrupt sei und zudem der Sohn ihres verschwundenen Ehemannes sehr einflussreich ist.

Kinder sind an Schule beliebt

Seit fast einem Jahr lebt die Familie Mehar nun in Ennetbaden. In nur einem Schuljahr haben sich die drei Kinder bestens integriert. Mohammed, der nach den Sommerferien in die erste Sek-Klasse kommt, figuriert während des Gesprächs gar als Dolmetscher. Auch seine jüngeren Geschwister verstehen Deutsch und können sich mit ihren Freunden in der Schule verständigen.

«Meine Kinder mussten vor unserer Flucht sehr schwierige Zeiten durchmachen.»
Nazia Mehar

So halten verschiedene Lehrpersonen denn auch fest, dass die drei Kinder von ihren Mitschülern geschätzt werden, sehr beliebt seien und viele Freundschaften geschlossen hätten. «Für die Schule Ennetbaden wäre es deshalb ein herber Verlust, wenn diese Familie aus der Schweiz ausgewiesen würde.»

Auch Nazia Mehar bestätigt: «Meine Kinder mussten vor unserer Flucht sehr schwierige Zeiten durchmachen. Seit wir hier in der Schweiz sind, haben sie grosse Fortschritte gemacht.» Doch nicht nur in der Schule tun die drei Kinder fleissig mit. So sangen sie beim Weihnachtskonzert mit, Mohammed spielt Fussball beim FC Baden und seine jüngeren Geschwister spielen Handball.

Dann der Negativbescheid

Umso grösser sei der Schock gewesen, als sie vor rund einem Monat den negativen Asylentscheid erhalten hätten. Begründet wird er damit, «dass die erste Ehefrau und deren Sohn die Familie und die Kinder nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe töten wollen und deshalb keine asylrechtlich relevante Verfolgungssituation vorliegt».

Übergriffe durch Dritte oder Befürchtungen, solchen ausgesetzt zu sein, seien nur dann asylrelevant, wenn der Staat seiner Schutzpflicht nicht nachkomme oder nicht in der Lage sei, Schutz zu gewähren.

«Pakistan verfügt über eine funktionierende Infrastruktur zur Ahndung von Verfolgungshandlungen und es ist grundsätzlich von einer Schutzfähigkeit und dem Schutzwillen der Behörden auszugehen.»

«Ich musste viel weinen in diesen Tagen.»
Nazia Mehar

Nazia Mehar erinnert sich genau an diesen Moment vor einem Monat: Sie hätten ein paar Tage fast nichts mehr gegessen und sehr schlecht geschlafen. Und die Tochter ergänzt: «Ich musste viel weinen in diesen Tagen.»

Für die Mutter kommt eine Rückkehr nach Pakistan nicht infrage. «Wir sind bereits stark in der Schweiz verwurzelt. Meine Kinder fühlen sich hier zu Hause und können sich nicht vorstellen, nach Pakistan zurückkehren zu müssen.»

Und Mohammed bestätigt: «Wir haben überhaupt kein Heimweh nach Pakistan. Unsere neue Heimat ist die Schweiz.» Aus diesen Gründen sei die Wegweisung aus der Schweiz unter keinen Umständen zumutbar. «Auch wenn es mir möglich wäre, bei meinen Familienangehörigen in Pakistan unterzukommen, würde ich mich weiterhin in Gefahr befinden.»

Scharfe Kritik am Asylverfahren

Die Ennetbadenerinnen Cathryn Lehmann und Valerie Wedekind setzen sich für das Schicksal der Familie ein. «Die Familie – unser Sohn geht mit Malika in die gleiche Klasse – ist mir ans Herz gewachsen», sagt Lehmann. Alle seien sehr bemüht, sich in Ennetbaden zu integrieren. So hätten sie die Bevölkerung zum pakistanischen Mittagessen eingeladen, was sehr gut angekommen sei.

Lehmann kritisiert den Asylentscheid mit klaren Worten: «Die pakistanische Polizei und Behörden seien für den Schutz der Familie zuständig. Doch genau hier liegt die Krux: Zwar gibt es Gesetze, doch diese werden nicht eingehalten.»

Pakistan sei gerade für Frauen ein sehr gefährliches Land, wenn sie etwa an die vielen Säureattacken und Ehrenmorde denke. Die Chancen, dass das Bundesverwaltungsgericht den Entscheid kippen wird, seien zwar nicht allzu gross. «Trotzdem vertraue ich darauf, dass unsere Behörden und Gerichte nicht nur stur nach Paragrafen entscheiden.»

Valerie Wedekind ergänzt: «Ich bin nicht naiv. Natürlich gibt es klare gesetzliche Grundlagen, die erfüllt sein müssen, damit man in der Schweiz Asyl erhält.»

«Wenn sie ausgewiesen werden, verlieren auch unsere Kinder gute Freunde.»
Valerie Wedekind

Doch sie bekunde grosse Mühe mit dem System. «Es kann doch nicht sein, dass vor allem junge, männliche Asylsuchende irgendwie durchs System schlüpfen, während eine Mutter zusammen mit ihren Kindern das Land verlassen muss; das ist schwierig zu akzeptieren.»

Auch störe sie, dass die Asylverfahren so lange dauern. «Die Familie jetzt nach eineinhalb Jahren wieder nach Pakistan zu schicken, ist schlicht unmenschlich.»

Wedekind ist überzeugt: «Die Kinder haben sich bereits super integriert. Wenn sie ausgewiesen werden, verlieren auch unsere Kinder gute Freunde. Wenn sie aber hierbleiben können, werden sie eine gute Bildung geniessen und so der Gesellschaft auch wieder etwas zurückgeben können.»

Für Cathryn Lehmann ist klar: «Als eine Frau, die in Pakistan kaum einmal allein das Haus verlassen durfte, hat sie sich ganz allein auf diese gefährliche Reise gemacht. Der Leidensdruck muss ungemein hoch gewesen sein.»

Weiterzug nach Strassburg?

Was, wenn auch das Bundesverwaltungsgericht den Asylantrag ablehnt, was schon in einem Monat der Fall sein könnte? «Wir haben uns natürlich Gedanken über einen Plan B gemacht», sagt Lehmann.

Jetzt auf

Zwei Optionen stehen dabei im Raum. Allenfalls ein Weiterzug an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Oder aber möglichst viele Mittel zu sammeln, um die Familie so gut als möglich bei einer allfälligen Rückkehr zu unterstützen.

Wedekind: «Wir werden uns ganz genau überlegen, wie wir die Mittel am besten einsetzen werden.»

Für Nazia Mehar ist der Fall klar: «Es ist natürlich nett, wenn man unsere Familie finanziell unterstützen will. Doch bei einer Rückkehr nach Pakistan würde das nicht viel bringen, da wir dort über keinerlei Rückhalt oder Netzwerk mehr verfügen. Schon vor unserer Flucht nicht und jetzt noch viel weniger.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
9 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Angelo C.
16.07.2016 12:32registriert Oktober 2014
Sicher eine sympathische Familie, doch eine von Vielen die halt auch dem vom Volk abgesegneten Asylrecht unterstehen. Hier immer mehr Ausnahmen bei den klar feststehenden Kriterien zu machen, kanns auch nicht sein, sonst würde das Asylgesetz ad absurdum geführt und Ausnahmen im Laufe der Zeit schier zur gängigen Regel.

Man kann die beiden emotionalen Damen aus Ennetbaden zwar menschlich verstehen, doch - wie erwähnt - haben wir ein humanitär geprägtes und allgemein anwrkanntes Asylrecht mit klaren Fixpunkten.

Und die gilt es letztlich (auch im Sinne der Rechtsgleichheit!) einzuhalten.
10
Melden
Zum Kommentar
avatar
Maragia
16.07.2016 11:53registriert April 2016
Irgendwie triffts doch immer die falschen, könnte man meinen (rein von der Berichtserstattung).
Die Kindern scheinen gut integriert zu sein. Aber andererseits verstehe ich auch die Behördung, welche Richtlinien zu befolgen haben und eben nicht hier und dort Ausnahmen machen können.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
Mooatiao
16.07.2016 15:35registriert Oktober 2015
Ganz klar . Abgehlent ist abgehlent ich glaube kaum das dies grundlos geshieht.!!
10
Melden
Zum Kommentar
9
Neue Vorlage für E-ID steht

Die neue Vorlage für die Einführung eines elektronischen Identitätsnachweises steht. Der Ständerat hat die letzten Differenzen in den Gesetzesbestimmungen zur staatlichen E-ID und dem Kredit für die Einführung ausgeräumt. Die E-ID soll 2026 eingeführt werden.

Zur Story